автордың кітабын онлайн тегін оқу Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler (75+ Titel): Traumnovelle, Leutnant Gustl, Amerika. Illustrierte
Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler (75+ Titel): Traumnovelle, Leutnant Gustl, Amerika
Illustrierte
Arthur Schnitzler war ein österreichischer Arzt, Erzähler und Dramatiker. Er gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der Wiener Moderne.
In vielen seiner Werke, insbesondere in den abendfüllenden Stücken Der einsame Weg (1904), Zwischenspiel (1906), Der Ruf des Lebens (1906) und Das weite Land (1911), beschäftigte er sich mit wachsender Sensibilität mit den Problemen der Ehe Leben. Er suchte nach einem zufriedenstellenden Ersatz für die traditionelle eheliche Beziehung und nach einer Moral, die besser an die Psychologie des 20 Jahrhunderts angepasst war, und verfolgte verschiedene amoralische Wege, lehnte jedoch letztendlich alle alten und neuen moralischen Systeme ab.
In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gehörten seine Stücke zu den am häufigsten auf der deutschen und österreichischen Bühne gespielten. Er schrieb auch einige der Novellen, die immer ein Lieblingsgenre waren, darunter Leutnant Gustl (1901), Casanovas Heimfahrt (1918) und Fraeulein Else (1924).
Romane
DER WEG INS FREIE
Erstes Kapitel
Georg von Wergenthin saß heute ganz allein bei Tische. Felician, sein älterer Bruder, hatte es vorgezogen, nach längerer Zeit wieder einmal mit Freunden zu speisen. Aber Georg verspürte noch keine besondere Neigung, Ralph Skelton, den Grafen Schönstein, oder andere von den jungen Leuten wiederzusehen, mit denen er sonst gern plauderte; er fühlte sich vorläufig zu keiner Art von Geselligkeit aufgelegt.
Der Diener räumte ab und verschwand. Georg zündete sich eine Zigarette an, dann ging er nach seiner Gewohnheit in dem großen, dreifenstrigen, nicht sehr hohen Zimmer hin und her und wunderte sich, wie dieser Raum, der ihm durch viele Wochen wie verdüstert erschienen war, allmählich doch das frühere freundliche Aussehen wiederzugewinnen begann. Unwillkürlich ließ er seinen Blick auf dem leeren Sessel am oberen Tischende ruhen, über den durch das offene Mittelfenster die Septembersonne hinfloß, und es war ihm, als hätte er seinen Vater, der seit zwei Monaten tot war, noch vor einer Stunde dort sitzen gesehen; so deutlich stand ihm jede, selbst die kleinste Gebärde des Verstorbenen vor Augen, bis zu seiner Art die Kaffeetasse fortzurücken, den Zwicker aufzusetzen, in einer Broschüre zu blättern.
Georg dachte an eines der letzten Gespräche mit dem Vater, das im Spätfrühling stattgefunden hatte, kurz vor der Übersiedlung in die Villa am Veldeser See. Georg war damals eben aus Sizilien heimgekommen, wo er den April mit Grace verbracht hatte, auf einer melancholischen und ein wenig langweiligen Abschiedsreise, vor der endgültigen Rückkehr der Geliebten nach Amerika. Er hatte wieder ein halbes Jahr oder länger nichts Rechtes gearbeitet; nicht einmal das schwermütige Adagio war niedergeschrieben, das er in Palermo, an einem bewegten Morgen am Ufer spazierengehend, aus dem Rauschen der Wellen herausgehört hatte. Nun spielte er das Thema seinem Vater vor, phantasierte darüber mit einem übertriebenen Reichtum an Harmonien, der die einfache Melodie beinahe verschlang; und als er eben in eine wild modulierende Variation geraten war, hatte der Vater, vom anderen Ende des Flügels her, lächelnd gefragt: Wohin, wohin? Georg, wie beschämt, ließ den Schwall der Töne verklingen, und nun, herzlich wie immer, doch nicht in so leichtem Ton wie sonst, hatte der Vater mit dem Sohn ein Gespräch über dessen Zukunft zu führen begonnen, das diesem heute durch den Sinn zog, als wäre es von mancher Ahnung schwer gewesen.
Er stand am Fenster und blickte hinaus. Drüben der Park war ziemlich leer. Auf einer Bank saß eine alte Frau, die eine altmodische Mantille mit schwarzen Glasperlen um hatte. Ein Kindermädchen spazierte vorbei, einen Knaben an der Hand, ein anderer, ganz kleiner, in Husarenuniform, mit angeschnalltem Säbel, eine Pistole im Gürtel, lief voran, blickte stolz um sich und salutierte einem Invaliden, der rauchend des Weges kam. Tiefer im Garten, um den Kiosk, saßen wenige Leute, die Kaffee tranken und Zeitung lasen. Das Laub war noch ziemlich dicht, und der Park sah bedrückt, verstaubt und im ganzen viel sommerlicher aus, als sonst in späten Septembertagen. Georg stützte die Arme aufs Fensterbrett, beugte sich vor und betrachtete den Himmel. Seit dem Tode seines Vaters hatte er Wien nicht verlassen, trotz vieler Möglichkeiten, die ihm offen standen. Er hätte mit Felician auf das Schönsteinsche Gut fahren können; Frau Ehrenberg hatte ihn in einem liebenswürdigen Brief in den Auhof eingeladen; und zu einer Radtour durch Kärnten und Tirol, wie er sie längst plante, und zu der er sich allein nicht entschließen konnte, hätte er leicht einen Gefährten gefunden. Aber er blieb lieber in Wien und vertrieb sich die Zeit mit dem Durchblättern und dem Ordnen von alten Familienpapieren. Er fand Erinnerungen bis zu seinem Urgroßvater, Anastasius von Wergenthin, der aus der Rheingegend stammte und durch Heirat mit einem Fräulein Recco in den Besitz eines alten längst unbewohnbaren Schlößchens bei Bozen gekommen war. Auch Dokumente zur Geschichte von Georgs Großvater waren vorhanden, der im Jahre 1866 als Artillerieoberst vor Chlum gefallen war. Dessen Sohn, Felicians und Georgs Vater, hatte sich wissenschaftlichen, hauptsächlich botanischen Studien gewidmet und in Innsbruck das Doktorat der Philosophie abgelegt. Als Vierundzwanzigjähriger lernte er ein junges Mädchen kennen aus alter österreichischer Beamtenfamilie, das sich, vielleicht mehr um den engen und beinahe ärmlichen Zuständen ihres Hauses zu entfliehen, als aus innerstem Beruf, zur Sängerin ausgebildet hatte. Der Freiherr von Wergenthin sah und hörte sie zum ersten Male im Winter in einer Konzertaufführung der Missa solemnis, und schon im Mai darauf wurde sie seine Frau. Im zweiten Jahre der Ehe kam Felician, im dritten Georg zur Welt. Drei Jahre später begann die Baronin zu kränkeln und wurde von den Ärzten nach dem Süden geschickt. Da die Heilung auf sich warten ließ, wurde der Haushalt in Wien aufgelöst, und so fügte es sich, daß der Freiherr mit den Seinen durch viele Jahre eine Art von Hotel- und Wanderleben führen mußte. Ihn selbst führten Geschäfte und Studien manchmal nach Wien, die Söhne aber verließen ihre Mutter beinahe niemals. Man lebte in Sizilien, in Rom, in Tunis, in Korfu, in Athen, in Malta, in Meran, an der Riviera, zuletzt in Florenz; keineswegs auf großem Fuß, aber doch standesgemäß; und nicht so sparsam, daß nicht ein guter Teil des freiherrlichen Vermögens allmählich aufgezehrt worden wäre.
Georg war achtzehn Jahre alt, als seine Mutter starb. Neun Jahre waren seither verflossen, aber unverblaßt war ihm die Erinnerung an jenen Frühlingsabend, da Vater und Bruder zufällig nicht daheim gewesen waren, und er allein und ratlos am Bett der sterbenden Mutter gestanden hatte, während durch die eilig aufgerissenen Fenster, mit der Luft des Frühlings, das Reden und Lachen von Spaziergängern verletzend laut hereinklang.
Die Hinterbliebenen kehrten mit dem Leichnam der Mutter nach Wien zurück. Der Freiherr widmete sich seinen Studien mit einem neuen, wie verzweifelten Eifer. Früher hatte man ihn nur als vornehmen Liebhaber gelten lassen, jetzt begann man ihn auch in akademischen Kreisen durchaus ernst zu nehmen, und als er zum Ehrenpräsidenten der botanischen Gesellschaft gewählt wurde, hatte er diese Auszeichnung nicht allein dem Zufall eines adeligen Namens zu danken. Felician und Georg ließen sich als Hörer an der juridischen Fakultät einschreiben. Aber der Vater selbst war es, der es dem Jüngern nach einiger Zeit freistellte, die Universitätsstudien aufzugeben und sich seinen musikalischen Neigungen entsprechend weiter zu bilden, was dieser dankbar und erlöst annahm. Doch auch auf diesem selbstgewählten Gebiete war seine Ausdauer nicht bedeutend, und oft wochenlang hintereinander konnte er sich mit allerlei Dingen beschäftigen, die von seinem Wege weit ablagen. Diese spielerische Anlage war es auch, die ihn jene alten Familienpapiere mit einem Ernst durchblättern ließ, als gälte es wichtigen Geheimnissen der Vergangenheit nachzuforschen. Manche Stunde verbrachte er bewegt über Briefen, die seine Eltern in früheren Jahren miteinander gewechselt hatten, über sehnsüchtigen und flüchtigen, schwermütigen und beruhigten, aus denen ihm nicht nur die Hingeschiedenen selbst, sondern auch andere halbvergessene Menschen neu lebendig wurden. Da erschien ihm der deutsche Lehrer wieder, mit der traurigen blassen Stirn, der ihm auf langen Spaziergängen den Horaz vorzudeklamieren pflegte; das braune, wilde Kindergesicht des Prinzen Alexander von Mazedonien tauchte auf, in dessen Gesellschaft Georg in Rom die ersten Reitstunden genommen hatte; und in einer traumhaften Weise, wie mit schwarzen Linien an einen blaßblauen Horizont gezeichnet, ragte die Pyramide des Cestius auf, so wie Georg sie, von seinem ersten Ritt aus der Campagna heimkehrend, in der Abenddämmerung erblickt hatte. Und wenn er ins Weiterträumen geriet, zeigten sich Meeresufer, Gärten, Straßen, von denen er gar nicht wußte, aus welcher Landschaft, welcher Stadt sein Gedächtnis sie bewahrt hatte; Gestalten schwebten vorbei, manche vollkommen deutlich, die ihm einmal nur in gleichgültiger Stunde begegnet waren, andere wieder, mit denen er zu irgend einer Zeit viele Tage zusammen gewesen sein mochte, schattenhaft und fern. Als Georg nach Sichtung jener alten Briefe auch seine eigenen Papiere in Ordnung brachte, fand er in einer alten, grünen Mappe musikalische Entwürfe aus der Knabenzeit, die ihm bis auf die Tatsache ihres Vorhandenseins so vollkommen entschwunden waren, daß man sie ihm ohne weiteres als die Aufzeichnungen eines anderen hätte vorlegen können. Von manchen war er angenehm schmerzlich überrascht, denn sie schienen ihm Versprechungen zu enthalten, die er vielleicht niemals erfüllen sollte. Und doch spürte er gerade in der letzten Zeit, daß sich irgend etwas in ihm vorbereitete. Er sah es wie eine geheimnisvolle aber sichere Linie, die von jenen ersten hoffnungsvollen Niederschriften in der grünen Mappe zu neuen Einfällen wies; und das wußte er: die zwei Lieder aus dem west-östlichen Divan, die er heuer im Sommer komponiert hatte, an einem schwülen Nachmittag, während Felician in der Hängematte lag und der Vater auf der kühlen Terrasse im Lehnstuhl arbeitete, hätte nicht der erstbeste ersinnen können.
Wie von einem gänzlich unerwarteten Gedanken überrascht wich Georg einen Schritt vom Fenster zu rück. Mit solcher Deutlichkeit war er noch nie inne geworden, daß seine Existenz seit dem Tode des Vaters bis zum heutigen Tage gleichsam unterbrochen gewesen war. An Anna Rosner, der er jene Lieder im Manuskript zugesandt, hatte er die ganze Zeit über nicht gedacht. Und wie ihm nun einfiel, daß er ihre wohllautende, dunkle Stimme wieder hören und sie auf dem etwas dumpfen Pianino zum Gesang begleiten durfte, sobald er nur wollte, war er angenehm bewegt. Und er erinnerte sich des alten Hauses in der Paulanergasse, des niederen Tors, der schlecht beleuchteten Stiege, die er bisher nicht öfter als drei-oder viermal hinaufgegangen war, wie man an Liebgewordenes und längst Bekanntes denkt.
Im Park drüben ging ein leichtes Wehen durch die Blätter. Über der Stephansturmspitze, die dem Fenster, durch den Park und einen beträchtlichen Teil der Stadt getrennt, gerade gegenüberlag, erschienen dünne Wolken. Ein langer Nachmittag, völlig ohne Verpflichtungen dehnte sich vor Georg aus. Im Laufe der zwei Trauermonate, so wollte es ihm scheinen, hatten sich alle Beziehungen früherer Zeit gelockert oder gelöst. Er dachte an den verflossenen Winter und Frühling, mit ihrem vielfach verschlungenen und wirren Treiben, und allerlei Erinnerungen tauchten bildhaft vor ihm auf: Die Fahrt mit Frau Mariannen im geschlossenen Fiaker durch den verschneiten Wald. Der maskierte Abend bei Ehrenbergs, mit Elses tiefsinnig-kindlichen Bemerkungen über die»Hedda Gabler«, der sie sich verwandt zu fühlen behauptete, und mit Sissys raschem Kuß unter den schwarzen Spitzen der Larve. Eine Bergtour im Schnee, von Edlach aus auf die Rax, mit dem Grafen Schönstein und Oskar Ehrenberg, der ohne angeborene alpine Neigungen gern die Gelegenheit ergriffen hatte, sich zwei hochgeborenen Herren anzuschließen. Der Abend bei Ronacher mit Grace und dem jungen Labinski, der sich vier Tage darauf erschossen, man hatte nie recht erfahren, ob wegen Grace, wegen Schulden, aus Lebensüberdruß, oder ausschließlich aus Affektation. Das seltsame glühend-kalte Gespräch mit Grace auf dem Friedhof im schmelzenden Feberschnee, zwei Tage nach Labinskis Begräbnis. Der Abend im heißen, hochgewölbten Fechtsaal, wo Felicians Degen die gefährliche Waffe des italienischen Meisters kreuzte. Der nächtliche Spaziergang nach dem Paderewski-Konzert, auf dem der Vater ihm so vertraut wie nie zuvor von jenem fernen Abend sprach, da die verstorbene Mutter in dem gleichen Saal, aus dem sie eben kamen, in der Missa solemnis gesungen hatte. Und endlich erschien ihm Anna Rosners hohe, ruhige Gestalt, am Klaviere lehnend, das Notenblatt in der Hand, die blauen, lächelnden Augen auf die Tasten gerichtet; und er hörte sogar ihre Stimme in seiner Seele klingen.
Während er so am Fenster stand und in den Park hinunterschaute, der sich allmählich belebte, empfand er es wie beruhigend, daß er zu keinem menschlichen Wesen in engerer Beziehung stand, und daß es doch manche gab, mit denen er wieder anknüpfen, in deren Kreis er wieder eintreten durfte, sobald es ihm nur beliebte. Zugleich fühlte er sich wunderbar ausgeruht, für Arbeit und Glück bereit wie niemals zuvor. Er war voll guter und kühner Vorsätze, seiner Jugend und Unabhängigkeit sich mit Freuden bewußt. Zwar fühlte er mit einiger Beschämung, daß, in diesem Augenblick wenigstens, seine Trauer um den hingeschiedenen Vater sehr gemildert war; doch fand er für diese Gleichgültigkeit einen Trost in sich, da er des quallosen Endes gedachte, das dem teuren Mann beschieden war. Im Garten, heiter mit den beiden Söhnen plaudernd, war er auf und abgegangen, hatte mit einem Mal um sich geschaut, als hörte er ferne Stimmen, hatte dann aufgeblickt, zum Himmel empor, und war plötzlich tot auf die Wiese hingesunken, ohne Schmerzenslaut, ja ohne Zucken der Lippen.
Georg trat ins Zimmer zurück, machte sich zum Fortgehen fertig und verließ das Haus. Seine Absicht war es, ein paar Stunden herumzuspazieren, wohin der Zufall ihn führen mochte, und abends endlich wieder an seinem Quintett weiterzuarbeiten, wofür ihm nun die rechte Stimmung gekommen schien. Er überschritt die Straße und betrat den Park. Die Schwüle hatte nachgelassen. Noch immer saß die alte Frau mit der Mantille auf der Bank und starrte vor sich hin. Auf dem sandigen Rund um die Bäume spielten Kinder. Um den Kiosk waren alle Stühle besetzt. Im Wetterhäuschen saß ein glattrasierter Herr, den Georg vom Sehen kannte, und der ihm durch seine Ähnlichkeit mit dem alten Grillparzer aufgefallen war. Am Teich kam Georg eine Gouvernante entgegen, mit zwei schön gekleideten Kindern und betrachtete ihn mit leuchtendem Blick. Als er aus dem Park auf die Ringstraße trat, begegnete ihm Willy Eißler in langem dunkelgestreiften Herbstpaletot und sprach ihn an:
»Guten Tag, Baron, sind Sie auch schon wieder in Wien eingerückt?«
»Ich bin schon lange zurück«, erwiderte Georg.»Nach dem Begräbnis meines Vaters hab' ich Wien nicht mehr verlassen.«
»Ja, ja, natürlich… Gestatten Sie, daß ich Ihnen nochmals…«Und Willy drückte Georg die Hand.
»Und was haben Sie denn heuer im Sommer getrieben?«fragte Georg.
»Allerlei. Tennis gespielt, gemalt, Zeit vertrödelt, einige amüsante und noch mehr langweilige Stunden verlebt…«Willy sprach äußerst rasch, wie mit einer absichtlichen leisen Heiserkeit, scharf, salopp, mit ungarischen, französischen, wienerischen, jüdischen Akzenten.»Übrigens, wie Sie mich da sehen«, fuhr er fort,»bin ich heute früh aus Przemysl gekommen.«
»Waffenübung?«
»Jawohl, letzte. Ich sag's mit Wehmut. So sehr ich mich dem Greisenalter nähere, es hat mir doch noch immer Spaß gemacht, so mit den gelben Aufschlägen umherzuwandeln, Sporen klirrend, Säbel scheppernd, eine Ahnung drohender Gefahr verbreitend, und von mangelhaften Lavaters für einen bessern Grafen gehalten zu werden.«Sie spazierten weiter, dem Gitter des Stadtparks entlang.
»Gehen Sie vielleicht zu Ehrenbergs?«fragte Willy.
»Nein, ich denke gar nicht daran.«
»Weil's der Weg ist. Haben Sie übrigens gehört, Fräulein Else soll verlobt sein.«
»So?«fragte Georg gedehnt.»Mit wem denn?«
»Raten S' Baron.«
»Am Ende Hofrat Wilt?«
»O fröhlich!«rief Willy.»Der denkt wohl nicht daran! Die Verschwägerung mit S. Ehrenberg könnte ihm doch am Ende die Ministerkarriere erschweren heutzutage«
»Rittmeister Ladisc?«riet Georg weiter.
»Ah dazu ist Fräulein Else doch zu gescheit, daß sie dem hineinfällt.«
Jetzt erinnerte sich Georg, daß sich Willy vor ein paar Jahren mit Ladisc geschlagen hatte. Willy fühlte Georgs Blick, zwirbelte den blonden, in polnischer Art herabhängenden Schnurrbart mit etwas nervösen Fingern hin und her und sprach rasch und beiläufig:»Der Umstand, daß ich mit dem Rittmeister Ladisc einmal eine Differenz gehabt hab', kann mich nicht hindern, in loyaler Weise anzuerkennen, daß er immer ein versoffenes Schwein gewesen ist. Ich hab' nämlich eine unüberwindliche, auch durch Blut nicht abzuwaschende Abneigung gegen die Leute, die sich bei den Juden anfressen und schon auf der Treppe über sie zu schimpfen anfangen. Bis ins Kaffeehaus kann man doch warten. Aber strengen Sie sich nicht weiter mit dem Raten an, Heinrich Bermann soll der Glückliche sein.«
»Nicht möglich«, rief Georg.
»Warum?«fragte Eißler.»Einer wird's ja doch schließlich werden. Bermann ist zwar kein Adonis, aber er ist auf dem Wege zum Ruhm; und das Gemisch von Herrenreiter und Athleten in höchster Vollendung, das sich Else offenbar erträumt hat, wird sie ja doch kaum finden. Vierundzwanzig Jahre ist sie indessen alt geworden, vor Salomons Taktlosigkeiten und Witzen dürfte ihr auch schon genügend grausen… also…«
»Salomon?… ach ja… Ehrenberg«.
»Sie kennen ihn auch nur unter dem Namen ›S‹?… S. heißt natürlich Salomon, und daß nur S. auf der Tafel an der Tür steht, ist eine Konzession, die er den Seinen gemacht hat. Wenn es nach ihm ginge, möchte er am liebsten zu den Gesellschaften, die Madame Ehrenberg gibt, im Kaftan und mit den gewissen Löckchen erscheinen.«
»Sie glauben…? Er ist doch nicht so fromm?«
»Fromm… o fröhlich! Mit der Frömmigkeit hat das allerdings nichts zu tun. Es ist nur Bosheit, hauptsächlich gegen seinen Sohn Oskar mit den feudalen Bestrebungen.«
»Ach so«, sagte Georg lächelnd.»Ist denn Oskar nicht schon längst getauft? Er ist ja Reserveoffizier bei den Dragonern.«
»Ach darum… Nun, ich bin auch nicht getauft und trotzdem… Ja, es gibt immer ein paar Ausnahmen… Mit einigem guten Willen…«Er lachte und fuhr fort:»Was übrigens Oskar anbelangt, so möchte er gewiß lieber katholisch sein. Aber das Vergnügen beichten gehen zu dürfen, käme ihm vorläufig doch noch zu teuer zu stehen. Es wird wohl auch im Testament vorgesehen sein, daß Oskar nicht überhüpft.«
Sie waren vor dem Café Imperial angelangt. Willy blieb stehen.»Ich habe da ein Rendezvous mit Demeter Stanzides.«
»Grüßen Sie ihn, bitte.«
»Danke bestens. Kommen Sie nicht mit hinein, auf ein Eis?«
»Danke, ich bummle noch ein bißchen.«
»Sie lieben die Einsamkeit?«
»Auf so allgemeine Fragen läßt sich schwer antworten«, erwiderte Georg.
»Allerdings«, sagte Willy, wurde plötzlich ernst und lüftete den Hut.»Habe die Ehre, Herr Baron.«
Georg reichte ihm die Hand. Er fühlte, daß Willy ein Mensch war, der ununterbrochen eine Stellung verteidigte, wenn auch ohne dringende Notwendigkeit.»Auf Wiedersehen«, sagte er mit unvermittelter Herzlichkeit. Er empfand es, wie schon öfters, als beinahe sonderbar, daß Willy Jude war. Schon der alte Eißler, Willys Vater, der anmutige Wiener Walzer und Lieder komponierte, sich kunst- und altertumsverständig mit dem Sammeln, zuweilen auch mit dem Verkauf von Antiquitäten befaßte und seinerzeit als der berühmteste Boxer von Wien gegolten hatte, mit seiner Riesengestalt, dem langen, grauen Vollbart und dem Monokel, sah eher einem ungarischen Magnaten ähnlich, als einem jüdischen Patriarchen; aus Willy aber hatten Anlage, Liebhaberei und eiserner Wille das täuschende Ebenbild eines geborenen Kavaliers gebildet. Was ihn jedoch vor andern jungen Leuten seines Stammes und seines Strebens auszeichnete, war der Umstand, daß er gewohnt war, seine Abstammung nie zu verleugnen, für jedes zweideutige Lächeln Aufklärung oder Rechenschaft zu fordern und sich gelegentlich über alle Vorurteile und Eitelkeiten, in denen er oft befangen schien, selber lustig zu machen.
Georg schlenderte weiter. Die letzte Frage Willys klang ihm nach. Ob er die Einsamkeit liebte?… Er erinnerte sich daran, wie er in Palermo ganze Vormittage allein herumspaziert war, während Grace ihrer Gewohnheit gemäß bis Mittag im Bette lag. Grace… Wo mochte sie jetzt sein…? Seit sie in Neapel von ihm Abschied genommen, hatte sie nichts mehr von sich hören lassen, wie es übrigens verabredet gewesen war. Er dachte an die tiefblaue Nacht, die über den Wassern schwebte, als er nach jenem Abschied allein nach Genua gefahren war, und an den seltsamen, leisen, wie märchenhaften Gesang zweier Kinder, die dicht aneinandergeschmiegt, gemeinsam in einen Plaid gehüllt, an der Seite ihrer schlafenden Mutter auf dem Verdeck gesessen waren.
Mit wachsendem Behagen spazierte er unter den Leuten weiter, die in sonntäglicher Lässigkeit an ihm vorübergingen. Mancher freundliche Frauenblick begegnete dem seinen und schien ihn darüber trösten zu wollen, daß er an diesem schönen Feiernachmittag einsam und mit allen äußern Abzeichen der Trauer umherwandelte. Und wieder tauchte ein Bild in ihm auf. Er sah sich auf einer hügeligen Wiese liegen, spät abends, nach einem heißen Junitag. Dunkelheit ringsum. Tief unter ihm Gewirr von Menschen, Lachen und Lärm, glitzernde Lampions. Ganz nah aus dem Dunkel Mädchenstimmen… Er zündet die kleine Pfeife an, die er nur auf dem Land zu rauchen pflegt; beim Schein des Zündhölzchens sieht er zwei hübsche, ganz junge Bauerndirnen, beinah noch Kinder. Er plaudert mit ihnen. Sie haben Angst, weil es so finster ist; sie schmiegen sich an ihn. Plötzlich Geknatter, Raketen in der Luft. Von unten ein lautes»Ah«. Bengalisches Licht, violett und rot, über dem unsichtbaren See in der Tiefe. Die Mädchen den Hügel hinab, verschwinden. Dann wird es wieder dunkel, und er liegt allein, schaut in die Finsternis hinauf, die schwül auf ihn herabsinken will. Dies war die Nacht vor dem Tage gewesen, da sein Vater sterben mußte. Und auch ihrer dachte er heute zum erstenmal.
Er hatte die Ringstraße verlassen, nahm die Richtung der Wieden zu. Ob die Rosners an diesem schönen Tage zu Hause waren? Immerhin lohnte es den kurzen Weg, und jedenfalls zog es ihn mehr dorthin, als zu Ehrenbergs. Nach Else sehnte er sich gar nicht, und ob sie wirklich Heinrich Bermanns Braut sein mochte oder nicht, war ihm beinahe gleichgültig. Er kannte sie schon lange. Sie war elf, er vierzehn Jahre alt gewesen, als sie an der Riviera miteinander Tennis gespielt hatten. Damals glich sie einem Zigeunermädel. Blauschwarze Locken umwirbelten ihr Stirn und Wangen, und ausgelassen war sie wie ein Bub. Ihr Bruder spielte schon damals den Lord, und Georg mußte noch heute lächeln, wenn er sich erinnerte, wie der Fünfzehnjährige eines Tages im lichtgrauen Schlußrock, mit weißen, schwarztamburierten Handschuhen und einem Monokel im Aug, auf der Promenade erschienen war. Frau Ehrenberg war damals vierunddreißig Jahre alt, hoheitsvoll, von übergroßer Gestalt, dabei noch schön, hatte verschleierte Augen und war meistens sehr müde. Es blieb unvergeßlich für Georg, wie eines Tages ihr Gemahl, der millionenreiche Patronenfabrikant, die Seinen überraschte und einfach durch sein Erscheinen der ganzen Ehrenbergischen Vornehmheit ein rasches Ende bereitet hatte. Georg sah ihn noch vor sich, so wie er während des Frühstücks auf der Hotelterrasse aufgetaucht war; ein kleiner, magerer Herr mit graumeliertem Vollbart und japanischen Augen, in weißem schlecht gebügelten Flanellanzug, einen dunklen Strohhut mit rotweiß gestreiftem Band auf dem runden Kopf, und mit schwarzen, bestaubten Schuhen. Er redete sehr gedehnt, immer wie höhnisch, selbst über die gleichgültigsten Dinge; und so oft er den Mund auftat, lag es unter dem Schein der Ruhe wie eine geheime Angst auf dem Antlitz der Gattin. Sie versuchte sich zu rächen, indem sie ihn mit Spott behandelte; aber gegen seine Rücksichtslosigkeit kam sie nicht auf. Oskar benahm sich, wenn es irgend möglich war, als gehörte er nicht dazu. In seinen Zügen spielte eine etwas unsichere Verachtung für den seiner nicht ganz würdigen Erzeuger, und Verständnis suchend lächelte er zu den jungen Baronen hinüber. Nur Else war zu jener Zeit sehr nett mit dem Vater. Auf der Promenade hing sie sich gern in seinen Arm, und manchmal fiel sie ihm vor allen Leuten um den Hals.
In Florenz, ein Jahr vor seiner Mutter Tod, hatte Georg Else wiedergesehen. Sie nahm damals Zeichenstunden bei einem alten, grau- und wirrhaarigen Deutschen, von dem die Sage ging, daß er einmal berühmt gewesen wäre. Er selbst verbreitete das Gerücht über sich, daß er seinen frühern, sehr bekannten Namen, als er sein Genie schwinden fühlte, abgelegt und die Stätte seines Wirkens, die er niemals nannte, verlassen hätte. Schuld an seinem Niedergang trug, wenn man seinen Berichten glauben durfte, ein dämonisches Frauenzimmer, das er geheiratet, das in einem Eifersuchtsanfall sein bedeutendstes Bild zerstört und durch einen Sprung vom Fenster ihr Leben geendet hatte. Dieser Mensch, den sogar der siebzehnjährige Georg als eine Art von schwindelhaftem Narren erkannte, war der Gegenstand von Elses erster Schwärmerei. Sie war damals vierzehn Jahre alt, die Wildheit und Unbefangenheit der Kindheit war dahin. Vor der Tizianschen Venus in den Uffizien glühten ihr die Wangen in Neugier, Sehnsucht und Bewunderung, und in ihren Augen spielten dunkle Träume von künftigen Erlebnissen. Öfters kam sie mit ihrer Mutter in das Haus, das die Wergenthins am Lungano gemietet hatten; und während Frau Ehrenberg die leidende Baronin in ihrer müd-geistreichen Weise zu unterhalten suchte, stand Else mit Georg am Fenster, führte altkluge Gespräche über die Kunst der Präraffaeliten und lächelte der vergangenen kindischen Spiele. Auch Felician erschien zuweilen, schlank und schön, blickte mit seinen kalten, grauen Augen an Dingen und Menschen vorbei, sprach ein paar höfliche Worte, halblaut, beinahe wegwerfend, und setzte sich ans Bett seiner Mutter, der er zärtlich die Hand streichelte und küßte. Gewöhnlich ging er bald wieder fort, nicht ohne für Else einen herben Duft von uralter Vornehmheit, kaltblütiger Verführung und eleganter Todesverachtung zurückzulassen. Stets hatte sie den Eindruck, als begebe er sich an einen Spieltisch, an dem es um Hunderttausende herging, zu einem Duell auf Tod und Leben, oder zu einer Fürstin mit rotem Haar und einem Dolch auf dem Nachttisch. Georg erinnerte sich, daß er sowohl auf den schwindelhaften Zeichenlehrer, als auf seinen Bruder ein wenig eifersüchtig gewesen war. Der Lehrer, aus Gründen, über die niemals etwas verlautete, wurde plötzlich entlassen, und kurz darauf fuhr Felician mit dem Freiherrn von Wergenthin nach Wien. Nun spielte Georg noch öfter als früher den Damen auf dem Klaviere vor, Fremdes und Eigenes, und Else sang mit ihrer kleinen, etwas schrillen Stimme leichtere Schubertsche und Schumannsche Lieder vom Blatt. Sie besuchte mit ihrer Mutter und Georg die Galerien und Kirchen; als das Frühjahr wiederkam, gab es gemeinschaftliche Spazierfahrten auf dem Hügelweg oder nach Fiesole, und lächelnde Blicke gingen zwischen Georg und Else hin und her, die von einem tieferen Einverständnis erzählten, als tatsächlich vorhanden war. In dieser etwas unaufrichtigen Art spielten die Beziehungen weiter, als der Verkehr in Wien aufgenommen und fortgesetzt wurde. Immer von neuem schien Else von dem gleichmäßig freundlichen Wesen wohltätig berührt, mit dem Georg ihr auch dann entgegentrat, wenn sie einander monatelang nicht gesehen hatten. Sie selbst aber war von Jahr zu Jahr äußerlich sicherer und innerlich unruhiger geworden. Ihre künstlerischen Bestrebungen hatte sie früh genug alle fallen lassen, und im Laufe der Zeit erschien sie sich zu den verschiedensten Lebensläufen ausersehen. Manchmal sah sie sich in der Zukunft als Weltdame, Veranstalterin von Blumenfesten, Patronesse von großen Bällen, Mitwirkende an aristokratischen Wohltätigkeitsvorstellungen; öfters noch glaubte sie sich berufen in einem künstlerischen Salon unter Malern, Musikern und Dichtern als große Versteherin zu thronen. Dann träumte sie wieder von einem mehr ins Abenteuerliche gerichteten Leben: sensationelle Heirat mit einem amerikanischen Millionär, Flucht mit einem Violinvirtuosen oder spanischen Offizier, dämonisches Zugrunderichten aller Männer, die sich ihr näherten. Zuweilen schien ihr aber ein stilles Dasein auf dem Land, an der Seite eines tüchtigen Gutsbesitzers, das erstrebenswerteste Ziel; und dann erblickte sie sich im Kreise von vielen Kindern, womöglich mit früh ergrautem Haar, ein mild resigniertes Lächeln auf den Lippen, an einfach gedecktem Tisch sitzen und ihrem ernsten Manne die Falten von der Stirne streichen. Georg aber fühlte immer, daß ihre Neigung zur Bequemlichkeit, die tiefer war, als sie selbst ahnte, sie vor jedem unbedachten Schritt schützen würde. Sie vertraute Georg mancherlei an, ohne jemals ganz ehrlich mit ihm zu sein; denn am öftesten und ernstesten hegte sie den Wunsch, seine Frau zu werden. Georg wußte das wohl, aber nicht allein darum erschien ihm das neueste Gerücht von ihrer Verlobung mit Heinrich Bermann ziemlich unglaubwürdig. Dieser Bermann war ein hagerer, bartloser Mensch mit düstern Augen und etwas zu langem schlichten Haar, der sich in der letzten Zeit als Schriftsteller bekannt gemacht hatte, und dessen Gebaren und Aussehen Georg, er wußte selbst nicht warum, an einen fanatischen jüdischen Lehrer aus der Provinz erinnerten. Das war nichts, was Else besonders fesseln, oder nur angenehm berühren konnte. Allerdings, wenn man länger mit ihm sprach, änderte sich jener Eindruck. Eines Abends im vergangenen Frühjahr war Georg mit ihm zusammen von Ehrenbergs fortgegangen, und sie waren in eine so anregende Unterhaltung über musikalische Dinge geraten, daß sie bis drei Uhr früh auf einer Ringstraßenbank weitergeplaudert hatten.
Es ist sonderbar, dachte Georg, wie vieles mir heute durch den Kopf geht, woran ich kaum mehr gedacht hatte. Und ihm war, als wenn er in dieser Herbstabendstunde allmählich aus der schmerzlich-dumpfen Versonnenheit vieler Wochen zum Tage emporgetaucht käme.
Nun stand er vor dem Hause in der Paulanergasse, wo die Rosners wohnten. Er sah zum zweiten Stockwerk auf. Ein Fenster war offen, weiße Tüllvorhänge in der Mitte zusammengesteckt, bewegten sich im leichten Zuge des Windes.
Rosners waren zu Hause. Das Stubenmädchen ließ Georg eintreten. Anna saß der Türe gegenüber, hielt die Kaffeetasse in der Hand und hatte die Augen auf den Eintretenden gerichtet. Der Vater, zu ihrer Rechten, las Zeitung und rauchte aus einer Pfeife. Er war glatt rasiert, nur an den Wangen liefen zwei schmale, ergraute Bartstreifen. Sein dünnes Haar von seltsam grünlichgrauer Färbung war an den Schläfen nach vorn gestrichen und sah aus wie eine schlecht gemachte Perücke. Seine Augen waren wasserhell und rot gerändert.
Die beleibte Mutter, mit der wie von einer Erinnerung schönerer Jahre umwobenen Stirn, blickte vor sich hin; ihre Hände, beschaulich ineinander verschlungen, ruhten auf dem Tisch. Anna stellte die Tasse langsam nieder, nickte und lächelte still. Die beiden Alten machten Miene aufzustehen, als Georg eintrat.
»Aber bitte, sich doch nicht stören zu lassen, bitte sehr«, sagte Georg.
Da krachte etwas an der Seitenwand. Josef, der Sohn des Hauses, erhob sich vom Diwan, auf dem er gelegen hatte.
»Habe die Ehre, Herr Baron«, sagte er mit einer sehr tiefen Stimme und strich sein über den Hals hinaufgeschlagenes, gelbkariertes, etwas fleckiges Sacco zurecht.
»Wie befinden sich immer, Herr Baron?«fragte der Alte, stand hager und etwas gebückt da und wollte nicht wieder Platz nehmen, eh sich Georg niedergelassen hatte. Josef rückte einen Stuhl zwischen Vater und Schwester. Anna reichte dem Besucher die Hand.
»Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte sie und trank einen Schluck aus ihrer Tasse.
»Sie haben traurige Zeiten durchgemacht, Herr Baron«, bemerkte Frau Rosner teilnahmsvoll.
»Jawohl«, fügte Herr Rosner hinzu.»Wir haben mit großem Bedauern von dem schweren Verluste gelesen… Und der Herr Vater haben sich doch immer der besten Gesundheit erfreut, so viel uns bekannt war.«Er sprach sehr langsam, immer, als wenn noch etwas kommen sollte, strich sich manchmal mit der linken Hand über den Kopf und nickte, während er zuhörte.
»Ja, es ist sehr unerwartet gekommen«, sagte Georg leise und blickte auf den dunkelroten, verschossenen Teppich zu seinen Füßen.
»Also ein plötzlicher Tod, sozusagen«, bemerkte Herr Rosner, und alles ringsum schwieg.
Georg nahm eine Zigarette aus seinem Etui und bot Josef eine an.
»Küß die Hand«, sagte Josef, nahm die Zigarette und verbeugte sich, indem er ohne ersichtlichen Grund die Hacken aneinander schlug. Während er dem Baron Feuer gab, glaubte er dessen Blicke auf sein Sacco gerichtet und bemerkte entschuldigend und mit noch tieferer Stimme als gewöhnlich:»Bureaujanker.«
»Bureaujanker kommt von Bureau«, sagte Anna einfach, ohne ihren Bruder anzusehen.
»Fräulein belieben die ironische Walze eingehängt zu haben«, erwiderte Josef heiter; doch war es dem gehaltenen Ton seiner Rede anzumerken, daß er sich unter andern Verhältnissen minder angenehm ausgedrückt hätte.
»Die Teilnahme war ja eine allgemeine«, begann der alte Rosner wieder.»Ich habe den Nachruf in der Neuen Freien Presse gelesen über den Herrn Papa… von Herrn Hofrat Kerner, wenn ich mich recht erinnere; er war ja höchst ehrenvoll. Auch die Wissenschaft hat einen herben Verlust erlitten.«
Georg nickte verlegen und blickte auf seine Hände nieder.
Anna sprach von ihrem verflossenen Sommeraufenthalt.»In Weißenfeld war's wunderschön«, sagte sie.»Gleich hinter unserm Haus war der Wald, mit sehr guten ebenen Wegen… nicht wahr, Papa? Da hat man stundenlang spazierengehen können, ohne einem Menschen zu begegnen.«
»Und haben Sie denn ein Klavier draußen gehabt?«fragte Georg.
»Auch das.«
»Ein greulicher Klimperkasten«, bemerkte Herr Rosner.»So ein Ding, das Stein erweichen, Menschen rasend machen kann.«
»Es war nicht so arg«, sagte Anna.
»Für die kleine Graubinger gut genug«, fügte Frau Rosner hinzu.
»Die kleine Graubinger ist nämlich die Tochter vom Kaufmann im Ort«, erklärte Anna,»und ich hab ihr die Anfangsgründe des Klavierspiels beigebracht. Ein hübsches, kleines Mäderl mit langen, blonden Zöpfen.«
»Es war eine Gefälligkeit für den Kaufmann«, sagte Frau Rosner.
»Ja, aber es muß bemerkt werden«, ergänzte Anna,»daß ich außerdem eine wirkliche, das heißt bezahlte Stunde gegeben habe.«
»Wie, auch in Weißenfeld?«fragte Georg.
»Kinder, von einer Sommerpartie. Es ist übrigens schade, Herr Baron, daß Sie kein einziges Mal bei uns auf dem Lande waren. Es hätte Ihnen gewiß gut gefallen.«
Georg erinnerte sich nun erst, daß er sich zu Anna beiläufig geäußert hatte, er würde sie im Sommer gelegentlich einer Radpartie vielleicht einmal besuchen.
»Der Herr Baron hätte wohl in dieser Sommerfrische nicht alles zu seiner Zufriedenheit vorgefunden«, begann Herr Rosner.
»Warum denn?«fragte Georg.
»Es ist dort nicht eben den Bedürfnissen verwöhnter Großstädter Rechnung getragen.«
»O ich bin nicht verwöhnt«, sagte Georg.
»… Waren Sie auch nicht auf dem Auhof?«wandte sich Anna an Georg.
»O nein«, erwiderte dieser rasch.»Nein, ich war nicht dort«, setzte er minder lebhaft hinzu.»Man hat mich allerdings aufgefordert… Frau Ehrenberg war so liebenswürdig… ich habe verschiedene Einladungen gehabt für den Sommer. Aber ich habe es vorgezogen, für mich allein in Wien zu bleiben.«
»Es tut mir eigentlich leid«, sagte Anna,»daß ich Else beinah gar nicht mehr sehe. Sie wissen ja, daß wir im selben Institut waren. Es ist freilich schon lang her. Ich hab sie wirklich gern gehabt. Schade, daß man sich im Lauf der Zeit so voneinander entfernt.«
»Wie kommt das nur?«sagte Georg.
»Ja, es liegt wohl daran, daß mir der ganze Kreis nicht besonders sympathisch ist.«
»Mir auch nicht«, sagte Josef, der Ringe in die Luft blies.»Ich gehe seit Jahren nicht hin. Offen gestanden… ich weiß ja nicht, wie Herr Baron zu dieser Frage Stellung nehmen… ich bin den Israeliten nicht zugetan.«
Herr Rosner blickte zu seinem Sohne auf.»Der Herr Baron verkehrt in diesem Haus, und es wird ihm ziemlich sonderbar erscheinen, lieber Josef…«
»Mir?«sagte Georg verbindlich.»Ich stehe ja in keinerlei näheren Verbindungen mit dem Hause Ehrenberg, so gern ich mit den beiden Damen zu plaudern pflege.«Und fragend setzte er hinzu:»Aber haben Sie Else nicht im vorigen Jahr Singstunden gegeben, Fräulein Anna?«
»Ja. Vielmehr… ich habe nur mit ihr korrepetiert.«
»Das werden Sie heuer wohl wieder tun?«
»Ich weiß nicht. Sie hat bisher noch nichts von sich hören lassen. Vielleicht gibt sie's ganz auf.«
»Sie glauben?«
»Es wäre beinah zu wünschen«, versetzte Anna sanft,»denn eigentlich hat sie immer mehr gepiepst, als gesungen. Übrigens«, und jetzt warf sie Georg einen Blick zu, der ihn gleichsam von neuem begrüßte,»die Lieder, die Sie mir geschickt haben, sind sehr hübsch. Soll ich sie Ihnen vorsingen?«
»Sie haben sich die Sachen schon angeschaut? Das ist nett.«
Anna hatte sich erhoben. Sie führte beide Hände an ihre Schläfen und strich wie ordnend, leicht über ihr gewolltes Haar. Sie trug es ziemlich hoch frisiert, wodurch ihre Gestalt noch größer erschien, als sie war. Eine schmale, goldene Uhrkette war zweimal um den freien Hals geschlungen, fiel über die Brust herab und verlor sich in dem grauledernen Gürtel. Durch eine fast unmerkliche Kopfbewegung forderte sie Georg auf, ihr zu folgen.
Er stand auf und sagte:»Wenn's erlaubt ist…«
»Bitte sehr, bitte sehr, natürlich«, sagte Herr Rosner.»Herr Baron wollen so freundlich sein, mit meiner Tochter ein wenig zu musizieren. Sehr schön, sehr schön.«Anna war in das Nebenzimmer getreten. Georg folgte ihr und ließ die Tür offen stehen. Die weißen Tüllvorhänge vor dem geöffneten Fenster waren zusammengesteckt und bewegten sich leise.
Georg setzte sich an das Pianino und griff ein paar Akkorde. Indes kniete Anna vor einer alten, schwarzen, teilweise vergoldeten Etagere und holte die Noten hervor.
Georg modulierte in die Anfangsakkorde seines Liedes.
Anna fiel ein, und zu Georgs Melodie sang sie die Goetheschen Worte.
»Deinem Blick mich zu bequemen,
Deinem Munde, deiner Brust,
Deine Stimme zu vernehmen,
War mir erst' und letzte Lust.«
Sie stand hinter ihm und schaute über seine Schulter in die Noten. Zuweilen beugte sie sich ein wenig vor, und dann fühlte er an der Schläfe den Hauch ihrer Lippen. Ihre Stimme war viel schöner, als seine Erinnerung sie bewahrt hatte.
Im Nebenzimmer wurde etwas zu laut gesprochen. Ohne den Gesang zu unterbrechen, lehnte Anna die Türe zu.
Josef war es gewesen, der sein Organ nicht länger hatte bändigen können.»Ich werde noch einen Sprung ins Kaffeehaus hinüber schauen«, sagte er.
Man erwiderte nichts. Herr Rosner trommelte leise auf den Tisch, und seine Gattin nickte scheinbar gleichgültig.
»Also adieu.«Bei der Tür wandte sich Josef wieder um und bemerkte mit mäßiger Festigkeit.»Mama, wenn du vielleicht einen Moment Zeit hast…«
»Ich hör schon«, sagte Frau Rosner,»es wird ja kein Geheimnis sein.«
»Nein. Es ist ja nur, weil ich mit dir ja ohnedies in Verrechnung bin.«
»Muß man ins Kaffeehaus gehen?«fragte der alte Rosner einfach, ohne aufzublicken.
»Also es handelt sich nicht ums Kaffeehaus. Es ist überhaupt… Ihr könnt mir's glauben, daß es mir selber lieber wär, wenn ich euch nicht anpumpen müßt'. Aber was soll der Mensch tun?«
»Arbeiten soll der Mensch«, sagte der alte Rosner leise und schmerzlich, und seine Augen röteten sich. Die Frau warf einen traurigen und strafenden Blick auf den Sohn.
»Also«, sagte Josef, knöpfte den Bureaujanker auf und wieder zu,»das ist doch wirklich… wegen jedem Guldenzettel…«
»Pst«, sagte Frau Rosner mit einem Blick gegen die angelehnte Tür, durch die jetzt, nachdem der Gesang Annas geendet, nur das gedämpfte Klavierspiel Georgs hereinklang.
Josef beantwortete den Blick der Mutter mit einer wegwerfenden Handbewegung:»Arbeiten soll ich, sagt der Papa. Als ob ich's nicht schon bewiesen hätte, daß ich's kann.«Er sah zwei fragende Augenpaare auf sich gerichtet.»Jawohl hab ich's bewiesen, und wenn es nur auf meinen guten Willen ankäm, hätt' ich überall mein Auskommen gehabt. Aber ich hab halt nicht das Temperament, mir was gefallen zu lassen, ich laß mich nicht ausschreien von meine Chefs, wenn ich mich einmal eine Viertelstunde verspäten tu… oder so was.«
»Die Geschichte kennen wir«, unterbrach ihn Herr Rosner müde.»Aber schließlich, weil wir schon davon sprechen, du wirst dich ja doch wieder um irgendwas umschauen müssen.«
»Umschauen… gut…«,erwiderte Josef.»Aber zu einem Juden bringt mich keiner mehr ins Geschäft. Das würde mich bei meinen Bekannten… jawohl in meinem ganzen Kreis würde mich das lächerlich machen.«
»Dein Kreis…«, sagte Frau Rosner,»wer ist denn dein Kreis? Kaffeehausfreunderln.«
»Also bitte, weil wir schon davon reden«, sagte Josef,»es hängt auch wieder mit dem Guldenzettel zusammen. Ich habe jetzt ein Rendezvous im Kaffeehaus mit dem jungen Jalaudek. Ich hätt's euch lieber erst gesagt, wenn die Sache perfekt wird… aber ich seh schon, ich muß früher mit der Farb heraus. Also der Jalaudek, das is der Sohn von dem Stadtrat Jalaudek, von dem berühmten Papierhändler. Und der alte Jalaudek ist bekanntlich eine sehr einflußreiche Persönlichkeit in der Partei… sehr intim mit dem Herausgeber vom»Christlichen Tagesboten«, Zelltinkel heißt er. Und beim»Tagesboten«da suchen sie jetzt junge Leute von gefälligen Umgangsformen, Christen natürlich, für das Inseratengeschäft. Und da hab ich heute mit dem Jalaudek Rendezvous im Kaffeehaus, weil er mir versprochen hat, sein Alter wird mich beim Zelltinkel empfehlen. Das wär etwas Ausgezeichnetes… da bin ich aus'm Wasser. Da kann ich in der kürzesten Zeit hundert oder auch hundertfünfzig Gulden im Monat verdienen.«
»Ach Gott«, seufzte der alte Rosner.
Draußen ging die Glocke. Rosner blickte auf.
»Das wird der junge Doktor Stauber sein«, sagte Frau Rosner und warf einen besorgten Blick nach der Tür, durch die Georgs Klavierspiel noch leiser drang als früher.
»Also Mama was is eigentlich?«sagte Josef.
Frau Rosner nahm ihre Geldbörse und reichte ihrem Sohn seufzend einen Silbergulden.
»Küß die Hand«, sagte Josef und wandte sich zum Gehen.
»Josef«, rief Herr Rosner.»Es ist doch einigermaßen unhöflich grade in dem Augenblick, wenn ein Besuch kommt…«
»Ah, ich dank schön, ich muß nicht von allem haben.«
Es klopfte, Doktor Bertold Stauber trat ein.
»Entschuldigen vielmals, Herr Doktor«, sagte Josef,»ich bin grad im Weggehen.«
»Bitte«, erwiderte Doktor Stauber kühl, und Josef verschwand.
Frau Rosner forderte den jungen Arzt auf, Platz zu nehmen. Er setzte sich auf den Divan und horchte nach der Seite hin, von wo das Klavierspiel kam.
»Der Baron Wergenthin«, erklärte Frau Rosner etwas verlegen.»Der Komponist. Anna hat eben gesungen.«Und sie schickte sich an, ihre Tochter herein zu rufen.
Doktor Berthold hielt sie ganz leicht am Arme fest und sagte freundlich.»Nein. Ich bitte Fräulein Anna nicht zu stören, absolut nicht. Ich habe nicht die geringste Eile. Es ist übrigens ein Abschiedsbesuch.«Der letzte Satz kam wie hervorgestoßen aus seiner Kehle; doch lächelte Berthold zugleich verbindlich, lehnte sich bequem in die Ecke und strich mit der rechten Hand den kurzen Vollbart zurecht.
Frau Rosner sah ihn förmlich erschreckt an.
Herr Rosner fragte:»Ein Abschiedsbesuch? Haben Herr Doktor Urlaub genommen? Das Parlament ist doch erst vor kurzer Zeit zusammen getreten, wie man den Zeitungen entnehmen konnte.«
»Ich habe mein Mandat niedergelegt«, sagte Berthold.
»Wie?«rief Herr Rosner aus.
»Jawohl niedergelegt«, wiederholte Berthold und lächelte zerstreut.
Das Klavierspiel hatte plötzlich aufgehört, die angelehnte Tür tat sich auf. Georg und Anna erschienen.
»O Doktor Berthold«, sagte Anna und streckte ihm, der rasch aufgestanden war, die Hand entgegen.»Sind Sie schon lange da? Haben Sie mich vielleicht singen gehört?«
»Nein, Fräulein Anna, das hab ich leider versäumt. Nur ein paar Töne auf dem Klavier hab ich vernommen.«
»Der Baron Wergenthin«, sagte Anna, als wollte sie vorstellen.»Die Herren kennen sich doch?«
»Gewiß«, erwiderte Georg und reichte Berthold die Hand.
»Der Doktor kommt uns einen Abschiedsbesuch machen«, sagte Frau Rosner.
»Wie?«rief Anna erstaunt aus.
»Ich verreise nämlich«, sagte Berthold und schaute Anna ernst und undurchdringlich in die Augen.»Ich gebe meine politische Karriere auf«, setzte er dann wie spöttisch hinzu…»besser gesagt, ich unterbreche sie auf eine Weile.«
Georg lehnte im Fenster, die Arme über der Brust verkreuzt, und betrachtete Anna von der Seite. Sie hatte sich gesetzt und sah ruhig zu Berthold auf, der aufrecht dastand, die eine Hand auf die Lehne des Divans gestützt, als wenn er eine Rede halten wollte.
»Und wohin reisen Sie?«fragte Anna.
»Nach Paris. Ich will im Pasteurschen Institut arbeiten. Ich kehre wieder zu meiner alten Liebe zurück, zur Bakteriologie. Es ist eine reinlichere Beschäftigung als die Politik.«
Es war dunkler geworden. Die Gesichter verschwammen, nur die Stirne Bertholds, der gerade dem Fenster gegenüberstand, war noch in Helle getaucht. Es zuckte um seine Brauen. Eigentlich hat er seine besondere Art von Schönheit, dachte Georg, der regungslos in der Fensterecke lehnte und sich von einer angenehmen Ruhe durchflossen fühlte.
Das Stubenmädchen brachte die brennende Lampe und hing sie über dem Tisch auf.
»Aber die Journale«, sagte Herr Rosner,»brachten noch keinerlei Meldung, daß Herr Doktor Ihr Mandat zurückgelegt haben.«
»Das wäre auch verfrüht«, erwiderte Berthold.»Meine Parteigenossen kennen wohl meine Absicht, aber die Sache ist noch nicht offiziell.«
»Diese Nachricht«, sagte Herr Rosner,»wird nicht verfehlen, in den beteiligten Kreisen großes Aufsehen zu erregen. Besonders nach der bewegten Debatte von neulich, in die Herr Doktor mit solcher Entschiedenheit eingegriffen haben. Herr Baron haben wohl gelesen«, wandte er sich an Georg.
»Ich muß gestehen«, erwiderte Georg,»ich verfolge die Parlamentsberichte nicht so regelmäßig, als man eigentlich müßte.«
»Müßte«, wiederholte Berthold nachsichtig.»Man muß wahrhaftig nicht, obzwar die Sitzung neulich nicht uninteressant war. Wenigstens als Beweis dafür, wie tief das Niveau einer öffentlichen Körperschaft sinken kann.«
»Es ist sehr hitzig zugegangen«, sagte Herr Rosner.
»Hitzig?… Nun ja, was man bei uns in Österreich hitzig nennt. Man war innerlich gleichgültig und äußerlich grob.«
»Um was hat es sich denn gehandelt?«fragte Georg.
»Es war die Debatte anläßlich der Interpellation über den Prozeß Golowski… Therese Golowski.«
»Therese Golowski…«, wiederholte Georg.»Den Namen sollt ich kennen.«
»Natürlich kennen Sie ihn«, sagte Anna.»Sie kennen ja Therese selbst. Wie Sie uns das letztemal besucht haben, ist sie eben von mir fortgegangen.«
»Ach ja«, sagte Georg,»eine Freundin von Ihnen.«
»Freundin möcht ich sie nicht nennen; das setzt doch eine gewisse innere Übereinstimmung voraus, die nicht mehr so recht vorhanden ist.«
»Sie werden Therese doch nicht verleugnen«, sagte Doktor Berthold lächelnd, aber herb.
»O nein«, erwiderte Anna lebhaft,»das fällt mir wahrhaftig nicht ein. Ich bewundere sie sogar. Ich bewundere überhaupt alle Leute, die imstande sind, für etwas, was sie im Grunde nichts angeht, so viel zu riskieren. Und wenn das nun gar ein junges Mädchen tut, ein hübsches junges Mädchen wie Therese…«, sie richtete die Worte an Georg, der gespannt zuhörte»so imponiert mir das noch mehr. Sie müssen nämlich wissen, daß Therese eine der Führerinnen der sozialdemokratischen Partei ist.«
»Und wissen Sie, wofür ich sie gehalten habe?«sagte Georg.»Für eine angehende Schauspielerin!«
»Herr Baron, Sie sind ein Menschenkenner«, sagte Berthold.
»Sie wollte wirklich einmal zur Bühne gehen«, bestätigte Frau Rosner kühl.
»Ich bitte Sie, gnädige Frau«, sagte Berthold,»welches junge Mädchen von einiger Phantasie, das überdies in engen Verhältnissen lebt, hat nicht in irgend einer Lebensepoche mit einer solchen Absicht wenigstens gespielt?«
»Es ist hübsch, daß Sie ihr verzeihen«, sagte Anna lächelnd.
Berthold fiel es zu spät ein, daß er mit seiner Bemerkung eine noch empfindliche Stelle in Annas Gemüt berührt haben mochte. Aber um so bestimmter fuhr er fort:»Ich versichere Sie, Fräulein Anna, es wäre schade um Therese gewesen. Denn es ist gar nicht abzusehen, wieviel sie für die Partei noch leisten kann, wenn sie nicht irgendwie aus ihrer Bahn gerissen wird.«
»Halten Sie das für möglich?«fragte Anna.
»Gewiß«, entgegnete Berthold.»Für Therese gibt es sogar zwei Gefahren: entweder redet sie sich einmal um den Kopf…«
»Oder?«fragte Georg, der neugierig geworden war.
»Oder sie heiratet einen Baron«, schloß Berthold kurz.
»Das verstehe ich nicht ganz«, sagte Georg ablehnend.
»Daß ich gerade Baron sagte, war natürlich ein Spaß. Setzen wir statt Baron Prinz, so wird die Sache klarer.«
»Ach so… Jetzt kann ich mir ungefähr denken, was Sie meinen, Herr Doktor… Aber was für einen Anlaß hatte das Parlament, sich mit ihr zu beschäftigen?«
»Ach ja. Im vorigen Jahre zur Zeit des großen Kohlenstreikes hielt Therese Golowski in irgend einem böhmischen Nest eine Rede, die eine angeblich verletzende Äußerung gegen ein Mitglied des kaiserlichen Hauses enthielt. Sie wurde angeklagt und freigesprochen. Man könnte daraus vielleicht schließen, daß die Anschuldigung nicht besonders haltbar gewesen sein dürfte. Trotzdem meldete der Staatsanwalt die Berufung an, ein anderes Gericht wurde designiert und Therese zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, die sie übrigens soeben absitzt. Und damit nicht genug, wurde der Richter, der sie in erster Instanz freisprach, versetzt… irgendwohin an die russische Grenze, von wo es keine Wiederkehr gibt. Nun, über diesen Fall haben wir eine Interpellation eingebracht, sehr zahm meiner Ansicht nach. Der Minister erwiderte, ziemlich heuchlerisch, unter dem Jubel der sogenannten staatserhaltenden Parteien. Ich habe mir erlaubt, darauf zu replizieren, vielleicht etwas energischer, als man es bei uns gewohnt ist; und da man von den gegnerischen Bänken aus nichts Sachliches erwidern konnte, hat man versucht, mich mit schreien und schimpfen tot zu machen. Und was das kräftigste Argument einer gewissen Sorte von Staatserhaltern gegen meine Ausführungen war, können Sie sich ja denken, Herr Baron.«
»Nun?«fragte Georg.
»Jud halts Maul«, erwiderte Berthold mit schmal gewordenen Lippen.
»O«, sagte Georg verlegen und schüttelte den Kopf.
»Ruhig Jud! Halts Maul! Jud! Jud! Kusch!«fuhr Berthold fort und schien in der Erinnerung zu schwelgen.
Anna sah vor sich hin. Georg fand innerlich, es wäre nun genug. Ein kurzes, peinliches Schweigen entstand.
»Also darum?«fragte Anna langsam.
»Wie meinen Sie?«fragte Berthold.
»Darum legen Sie das Mandat nieder?«
Berthold schüttelte den Kopf und lächelte.»Nein, nicht darum.«
»Herr Doktor sind über diese rohen Insulte gewiß erhaben«, sagte Herr Rosner.
»Das will ich nicht eben behaupten«, erwiderte Berthold.»Aber immerhin mußte man auf dergleichen gefaßt sein. Der Grund meiner Mandatsniederlegung ist ein anderer.«
»Und darf man wissen…?«fragte Georg.
Berthold sah ihn durchdringend und doch zerstreut an. Dann erwiderte er verbindlich:»Gewiß darf man. Nach meiner Rede begab ich mich ins Büfett. Dort begegnete ich unter andern einem der allerdümmsten und frechsten unserer freigewählten Volksvertreter, dem, der wie gewöhnlich, auch während meiner Rede, der Allerlauteste gewesen war… dem Papierhändler Jalaudek. Ich kümmerte mich natürlich nicht um ihn. Er stellt eben sein geleertes Glas hin. Wie er mich sieht, lächelt er, nickt mir zu und grüßt heiter, als wäre nichts geschehen:»Habe die Ehre, Herr Doktor, auch eine kleine Erfrischung gefällig?«
»Unglaublich!«rief Georg aus.
»Unglaublich?… Nein, österreichisch. Bei uns ist ja die Entrüstung so wenig echt wie die Begeisterung. Nur die Schadenfreude und der Haß gegen das Talent, die sind echt bei uns.«
»Nun, und was haben Sie dem Mann geantwortet?«fragte Anna.
»Was ich geantwortet habe? Nichts, selbstverständlich.«
»Und haben Ihr Mandat niedergelegt«, ergänzte Anna mit leisem Spott.
Berthold lächelte. Zugleich aber zuckte es um seine Brauen wie gewöhnlich, wenn er unangenehm oder schmerzlich berührt war. Es war zu spät, ihr zu sagen, daß er eigentlich gekommen war, sie um Rat zu fragen wie in früherer Zeit. Und doch, das fühlte er, er hatte klug daran getan, sich gleich beim Eintritt jeden Rückzug abzuschneiden, seinen Verzicht auf das Mandat als bereits vollzogen, seine Reise nach Paris als unmittelbar bevorstehend anzukündigen. Denn nun wußte er ja, daß Anna ihm wieder einmal entglitten war, vielleicht auf lange. Daß irgend ein Mensch sie ihm wirklich und auf immer nehmen konnte, das glaubte er freilich nicht, und auf diesen eleganten, jungen Künstler eifersüchtig zu sein, der so ruhig mit verkreuzten Armen dort am Fenster stand, dazu wollte er sich auf keinen Fall verstehen. Schon manchmal war es geschehen, daß Anna für einige Zeit wie in einem für ihn fremden Element gleichsam verzaubert dahinschwebte. Und vor zwei Jahren, da sie ernstlich daran dachte, sich der Bühne zu widmen und ihre Rollen zu studieren begann, hatte er sie eine kurze Zeit hindurch völlig verloren gegeben. Später, als sie durch die Unverläßlichkeit ihrer Stimme genötigt wurde, ihre künstlerischen Pläne fahren zu lassen, schien sie wohl wieder zu ihm zurückzukehren; aber diese Epoche hatte er mit Absicht ungenutzt verstreichen lassen. Denn eh' er sie zu seiner Gattin machte, wollte er irgend einen Erfolg errungen haben, entweder auf wissenschaftlichem oder politischem Gebiet, und von ihr wahrhaft bewundert sein. Er war auf dem Weg dazu gewesen. An der gleichen Stelle, wo sie jetzt saß und ihm mit klaren, aber wie fremden Augen ins Gesicht schaute, hatte sie die Korrekturbogen seiner letzten medizinisch-philosophischen Arbeit vor sich liegen gehabt, die den Titel trug: Vorläufige Bemerkungen zu einer Physiognomik der Krankheiten. Und dann, als sich sein Übergang zur Politik vollzog, zu der Zeit, da er in Wählerversammlungen Reden hielt, sich durch ernste geschichtliche und nationalökonomische Studien für den neuen Beruf vorbereitete, hatte sie sich seiner Vielseitigkeit und seiner Energie herzlich gefreut. All das war nun vorüber. Allmählich schien sie gerade seine Fehler, die ihm ja selbst durchaus nicht verborgen waren, insbesondere seine Neigung, sich an den eigenen Worten zu berauschen, mit schärferen Blick zu sehen als früher, und dadurch begann er wieder seine Sicherheit ihr gegenüber mehr und mehr zu verlieren. Er war nicht ganz er selbst, wenn er zu ihr oder in ihrer Gegenwart sprach. Auch heute war er nicht mit sich zufrieden. Mit einem Ärger, der ihm selbst kleinlich vorkam, ward er sich bewußt, daß er seine Begegnung im Büfett mit Jalaudek nicht wirksam genug vorgetragen hatte und daß er seinen Ekel vor der Politik viel glaubhafter hätte darstellen müssen.»Sie haben ja wahrscheinlich recht, Fräulein Anna,«sagte er,»wenn Sie darüber lächeln, daß ich wegen dieses läppischen Abenteuers mein Mandat niedergelegt habe. Ein parlamentarisches Leben ohne Komödienspiel ist ja überhaupt nicht möglich. Ich hätte es bedenken und selber mitagieren, dem Kerl womöglich zutrinken sollen, der mich öffentlich beschimpft hat. Das wäre bequem, österreichisch und vielleicht sogar das Richtigste gewesen.«Er fühlte sich wieder im Zuge und sprach lebhaft weiter:»Es gibt am Ende doch nur zwei Methoden, mittels deren in der Politik praktisch etwas zu leisten ist; entweder durch eine großartige Frivolität, die das ganze öffentliche Leben als ein amüsantes Spiel betrachtet, die in Wahrheit für nichts begeistert, gegen nichts entrüstet ist, und der die Menschen, um deren Glück oder Elend es sich doch im letzten Sinn handeln sollte, vollkommen gleichgültig bleiben. So weit bin ich nicht, und ich weiß nicht, ob ich jemals dahin gelangen werde. Ehrlich gesagt, ich hab es mir schon manchmal gewünscht. Die andre Methode aber ist: bereit sein, in jedem Augenblick für das, was man das Rechte hält, seine ganze Existenz, sein Leben im wahrsten Sinne des Wortes «
Berthold schwieg plötzlich. Sein Vater, der alte Doktor Stauber, war eingetreten und wurde herzlich begrüßt. Er reichte Georg, der ihm von Frau Rosner vorgestellt wurde, die Hand und sah ihn so freundlich an, daß sich Georg sofort zu ihm hingezogen fühlte. Er sah offenbar jünger aus, als er war. Sein langer, rötlichblonder Bart war nur von einzelnen grauen Fäden durchzogen, und das schlicht gekämmte lange Haar zog in dichten Strähnen zu dem breiten Nacken hin. Die Stirn, die von auffallender Höhe war, gab der ganzen, ein wenig untersetzten, ja hochschultrigen Erscheinung eine gewisse Würde. Die Augen, wenn sie nicht eben mit einiger Absicht gütig oder klug schauten, schienen sich hinter den müd gewordenen Lidern gleichsam für den nächsten Blick auszuruhen.
»Ich habe Ihre Mutter gekannt, Herr Baron«, sagte er ziemlich leise zu Georg.
»Meine Mutter, Herr Doktor…?«
»Sie werden sich kaum daran erinnern. Sie waren damals ein kleiner Bub von drei, vier Jahren.«
»Sie waren ihr Arzt?«fragte Georg.
»Ich besuchte sie zuweilen als Vertreter des Professors Duchegg, bei dem ich Assistent war. Sie haben damals in der Habsburgergasse gewohnt, in einem alten Haus, das längst niedergerissen ist. Ich könnte Ihnen heute noch die Einrichtung des Zimmers schildern, in dem Ihr Herr Vater mich empfing… der leider auch allzufrüh gestorben ist… Auf dem Schreibtisch stand eine Bronzefigur und zwar ein gepanzerter Ritter mit einer Fahne. Und an der Wand hing eine Kopie nach einem Van Dyck aus der Liechtensteingalerie.«
»Ja«, sagte Georg verwundert über das gute Gedächtnis des Arztes,»ganz richtig.«
»Aber ich habe da die Herrschaften in einem Gespräch unterbrochen«, fuhr Doktor Stauber fort, in dem ein wenig melancholisch singenden und doch überlegenen Ton, der ihm eigen war, und ließ sich in die Ecke des Divans sinken.
»Eben teilt uns Doktor Berthold zu unserm Erstaunen mit«, sagte Herr Rosner,»daß er sich entschlossen hat, sein Mandat niederzulegen.«
Der alte Stauber richtete einen ruhigen Blick auf seinen Sohn, den dieser ebenso ruhig erwiderte. Georg, der dies Augenspiel bemerkte, hatte den Eindruck, daß hier ein stilles Einverständnis waltete, das keiner Worte bedurfte.
»Ja«, sagte Doktor Stauber,»mich hat es allerdings nicht überrascht. Ich habe immer das Gefühl gehabt, daß Berthold im Parlament nur wie zu Gaste sitzt, und bin eigentlich froh, daß er nun eine Art von Heimweh nach seinem wahren Beruf bekommen hat. Ja, ja, dein wahrer, Berthold«, wiederholte er wie zur Antwort auf ein Stirnrunzeln seines Sohnes.»Damit ist ja nichts für die Zukunft präjudiziert. Nichts erschwert uns die Existenz so sehr, als daß wir so häufig an Definitiva glauben… und daß wir die Zeit damit verlieren, uns eines Irrtums zu schämen, statt ihn einzugestehen und unser Leben einfach neu zu gestalten.«
Berthold erklärte, daß er in spätestens acht Tagen abreisen wolle. Jeder weitere Aufschub hätte keinen Sinn. Es wäre auch möglich, daß er nicht in Paris bliebe. Seine Studien konnten eine weitere Reise not wendig machen. Ferner war er entschlossen, alle Abschiedsbesuche zu unterlassen; wie er hinzusetzte, hatte er ohndies allen Verkehr früherer Jahre in gewissen bürgerlichen Kreisen, wo sein Vater eine ausgebreitete Praxis übte, vollkommen aufgegeben.
»Sind wir uns denn nicht diesen Winter einmal bei Ehrenbergs begegnet?«fragte Georg mit einiger Genugtuung.
»Das ist richtig«, erwiderte Berthold.»Mit Ehrenbergs sind wir übrigens entfernt verwandt. Das Bindeglied zwischen uns ist merkwürdigerweise die Familie Golowski. Jeder Versuch, Ihnen das näher zu erklären, Herr Baron, wäre vergeblich. Ich müßte sie eine Wanderung durch die Standesämter und Kultusgemeinden von Temesvar, Tarnopol und ähnlichen angenehmen Ortschaften unternehmen lassen und das möcht ich Ihnen doch nicht zumuten.«
»Und übrigens«, fügte der alte Doktor Stauber resigniert hinzu,»weiß der Herr Baron gewiß, daß alle Juden miteinander verwandt sind.«
Georg lächelte liebenswürdig. In Wirklichkeit aber war er eher enerviert. Seiner Empfindung nach bestand durchaus keine Notwendigkeit, daß auch der alte Doktor Stauber ihm offizielle Mitteilung von seiner Zugehörigkeit zum Judentum machte. Er wußte es ja, und er nahm es ihm nicht übel. Er nahm es überhaupt keinem übel; aber warum fingen sie denn immer selbst davon zu reden an? Wo er auch hinkam, er begegnete nur Juden, die sich schämten, daß sie Juden waren, oder solchen, die darauf stolz waren, und Angst hatten, man könnte glauben, sie schämten sich.
»Gestern hab ich übrigens die alte Golowski gesprochen«, fuhr Doktor Stauber fort.
»Die arme Frau«, sagte Herr Rosner.
»Wie gehts ihr denn?«fragte Anna.
»Wie wirds ihr gehen… Sie können sich denken… die Tochter eingesperrt, der Sohn Freiwilliger auf Staatskosten, wohnt in der Kaserne… Stellen Sie sich das vor, Leo Golowski als Patriot… Und der Alte sitzt im Kaffeehaus und schaut zu, wie die andern Leut Schach spielen. Er selbst hat doch nicht mehr die zehn Kreuzer, um das Spielgeld zu zahlen.«
»Die Haft von Therese muß übrigens bald abgelaufen sein«, sagte Berthold.
»Dauert doch noch zwölf, vierzehn Tage«, erwiderte sein Vater…»Na, Annerl«, wandte er sich dann an das junge Mädchen,»es wäre wirklich schön von Ihnen, wenn Sie sich wieder einmal in der Rembrandtstraße anschauen ließen; die alte Frau hat eine fast rührende Schwärmerei für Sie. Ich versteh wirklich nicht warum«, setzte er lächelnd hinzu, während er Anna beinah zärtlich betrachtete. Sie aber sah vor sich hin und erwiderte nichts.
Die Wanduhr schlug sieben.
Georg erhob sich, als wenn er nur dieses Zeichen erwartet hätte.
»Herr Baron verlassen uns schon«, sagte Herr Rosner aufstehend.
Georg bat die Anwesenden, sich nicht stören zu lassen, und reichte allen die Hand.
»Es ist merkwürdig«, sagte der alte Stauber,»wie Ihre Stimme an die Ihres verstorbenen Herrn Vaters erinnert.«
»Ja, man hat es mir vielfach gesagt«, entgegnete Georg.»Ich selbst konnte es allerdings nie finden.«
»Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der seine eigene Stimme kennt«, bemerkte der alte Stauber, und es klang wie der Beginn eines populären Vortrags.
Aber Georg empfahl sich. Anna begleitete ihn, trotz seiner leisen Abwehr, ins Vorzimmer und ließ etwas absichtlich, wie es Georg vorkam die Türe halboffen stehn.»Es ist schade, daß wir nicht länger musizieren konnten«, sagte sie.
»Mir tuts auch leid, Fräulein Anna.«
»Das Lied hat mir heut noch besser gefallen, als beim erstenmal, wie ich mich selber begleiten mußte. Nur zum Schluß verläuft es ein bißchen… ich weiß nicht, wie ich sagen soll.«
»Ich weiß, was Sie meinen. Der Schluß ist konventionell, das hab ich gleich gefühlt. Hoffentlich kann ich Ihnen bald was Besseres bringen, Fräulein Anna.«
»Lassen Sie mich aber nicht zu lange darauf warten.«
»Gewiß nicht. Also Adieu Fräulein Anna.«
Sie reichten einander die Hände und lächelten beide.
»Warum sind Sie nicht nach Weißenfeld gekommen?«fragte Anna leicht.
»Es tut mir wirklich leid, aber sehen Sie, Fräulein Anna, ich hätte wahrhaftig heuer keine angenehme Gesellschaft vorgestellt, das können Sie sich wohl denken.«
Anna sah ihn ernst an.»Glauben Sie nicht«, sagte sie,»daß man Ihnen vielleicht hätte helfen können manches tragen?«
»Es zieht, Anna«, rief Frau Rosner von drinnen.
»Ich komm ja schon«, erwiderte Anna etwas ungeduldig. Aber Frau Rosner hatte die Tür schon geschlossen.
»Wann darf ich wiederkommen?«fragte Georg.
»Wann es Ihnen angenehm ist. Allerdings… ich müßte Ihnen eigentlich eine schriftliche Stundeneinteilung geben, damit Sie wissen, wann ich zu Hause bin, und damit wäre auch noch nichts getan. Oft geh ich spazieren, oder habe Besorgungen in der Stadt, oder schau mir Bilder an, oder Ausstellungen…«
»Das könnte man doch einmal zusammen tun«, sagte Georg.
»O ja«, erwiderte Anna, nahm ihr Portemonnaie aus der Tasche und entnahm diesem ein winziges Notizbuch.
»Was haben Sie denn da?«fragte Georg.
Anna lächelte und blätterte in dem Büchlein.»Warten Sie nur… Donnerstag elf Uhr wollte ich mir die Miniaturausstellung in der Hofbibliothek ansehen. Wenn Sie das auch interessiert, so können wir uns dort treffen.«
»Aber sehr gern.«
»Also schön. Dort können wir gleich besprechen, wann Sie mich das nächstemal zum Singen begleiten.«
»Abgemacht«, sagte Georg und reichte ihr die Hand. Es fiel ihm ein, daß gewiß, während hier draußen Anna mit ihm plauderte, sich drin im Zimmer der junge Doktor Stauber ärgern oder gar kränken mochte. Und er wunderte sich, daß er diesen Umstand selbst offenbar unangenehmer empfand als Anna, die doch im ganzen ein gutmütiges Wesen zu sein schien. Er löste seine Hand aus der ihren, nahm Abschied und ging.
Als Georg auf die Straße kam, war es ganz dunkel geworden. Langsam schlenderte er über die Elisabethbrücke an der Oper vorbei der inneren Stadt zu und ließ, unbeirrt durch Geräusch und Treiben rings umher, sein Lied in sich nachtönen. Er fand es seltsam, daß Annas Stimme, die im kleinen Raume so reinen und gesunden Klang gab, jede Zukunft auf der Bühne und im Konzertsaal versagt sein sollte, und noch seltsamer, daß Anna unter diesem Verhängnis kaum zu leiden schien. Freilich war er sich nicht klar darüber, ob Annas Ruhe auch den wahren Ausdruck ihres Wesens widerspiegelte.
Er kannte sie wohl flüchtig schon seit einigen Jahren; aber erst eines Abends im vergangenen Frühling waren sie einander näher gekommen. Im Waldsteingarten hatte sich damals eine größere Gesellschaft Rendezvous gegeben. Man speiste im Freien, unter hohen Kastanienbäumen, vergnügt, angeregt und berückt von dem ersten warmen Maiabend des Jahres. Georg sah sie alle wieder, die damals gekommen waren. Frau Ehrenberg, die Veranstalterin der Zusammenkunft, absichtlich matronenhaft mit einem lose sitzenden, dunkeln Foulardkleid angetan; Hofrat Wilt, wie in der Maske eines englischen Staatsmanns, mit vornehm schlampigen Gebärden und mit dem gleichen, etwas wohlfeilen Ton der Überlegenheit für sämtliche Dinge und Menschen; Frau Oberberger, die mit dem grau gepuderten Haar, den blitzenden Augen und dem Schönheitspflästerchen auf dem Kinn einer Rokokomarquise ähnelte; Demeter Stanzides mit den weiß glänzenden Zähnen, und auf der blassen Stirn die Müdigkeit eines alten Heldengeschlechtes; Oskar Ehrenberg, mit einer Eleganz, die viel vom ersten Kommis eines Modehauses, manches von der eines jugendlichen Gesangskomikers und auch einiges von der eines jungen Herrn aus der Gesellschaft hatte; Sissy Wyner, die ihre dunkeln, lachenden Augen von einem zum andern sandte, als sei sie mit jedem einzelnen durch ein andres lustiges Geheimnis verbunden; Willy Eißler, der heiser und fidel allerlei heitre Geschichten aus seiner Militärzeit und jüdische Anekdoten erzählte; Else Ehrenberg, von zarter Frühlingsmelancholie umflossen in weißem englischem Tuchkleid, mit den Bewegungen einer großen Dame, die sich zu dem Kindergesicht und der zarten Figur anmutig und beinahe rührend ausnahmen; Felician, kühl und liebenswürdig, mit hochmütigen Augen, die zwischen den Gästen hindurch zu andern Tischen und auch an diesen vorbei in die Ferne sahen; Sissys Mutter, jung, rotbackig und plappernd, die überall zugleich mitreden und überall zugleich mithören wollte; Edmund Nürnberger, in den bohrenden Augen und um den schmalen Mund jenes fast maskenhaft gewordene Lächeln der Verachtung für ein Welttreiben, das er bis auf den Grund durchschaute, und in dem er sich doch manchmal zu seinem eigenen Erstaunen selbst als Mitspieler entdeckte; endlich Heinrich Bermann, in einem zu weiten Sommeranzug, mit einem zu billigen Strohhut, mit einer zu lichten Kravatte, der bald lauter sprach und bald tiefer schwieg als die andern. Zuletzt, ohne jede Begleitung und in sicherer Haltung war Anna Rosner erschienen, hatte mit leichtem Kopfnicken die Gesellschaft begrüßt und ungezwungen zwischen Frau Ehrenberg und Georg Platz genommen.»Die hab ich für Sie eingeladen«, bemerkte Frau Ehrenberg leise zu Georg, der sich bis zu diesem Abend mit Anna auch in Gedanken kaum beschäftigt hatte. Jene Worte, vielleicht nur einem flüchtigen Einfall der Frau Ehrenberg entsprungen, wurden im weiteren Verlauf des Abends wahr. Von dem Augenblick an, da die Gesellschaft aufbrach und ihre fidele Reise durch den Volksprater antrat, überall, in den Buden, im Ringelspiel, vor dem Wurstel und auch auf dem Heimweg in die Stadt, der spaßhafter Weise zu Fuß gemacht wurde, hatten sich Georg und Anna zusammen gehalten und waren endlich, von lustigen und törichten Gesprächen umschwirrt, in eine ganz vernünftige Unterhaltung geraten. Ein paar Tage später war er bei ihr und brachte ihr, wie versprochen, den Klavierauszug von»Eugen Onegin«und einige von seinen Liedern; bei seinem nächsten Besuch sang sie ihm diese Lieder und manche von Schubert vor, und ihre Stimme gefiel ihm sehr. Bald darauf nahmen sie für den Sommer voneinander Abschied, ohne jede Spur von Wehmut und Zärtlichkeit; Annas Einladung nach Weißenfeld hatte Georg nur als Höflichkeit aufgefaßt, so wie er seine Zusage verstanden glaubte; und im Vergleich zu der Harmlosigkeit des bisherigen Verkehrs durfte die Stimmung des heutigen Besuchs Georg wohl eigentümlich erscheinen.
Auf dem Stephansplatz sah sich Georg von jemandem gegrüßt, der auf der Plattform eines Stellwagens stand. Georg, der etwas kurzsichtig war, erkannte den Grüßenden nicht gleich.
»Ich bins«, sagte der Herr auf der Plattform.
»O, Herr Bermann! Guten Abend«, Georg reichte ihm die Hand hinauf.»Wohin des Wegs?«
»Ich fahre in den Prater. Ich will unten nachtmahlen. Haben Sie etwas besondres vor, Herr Baron?«
»Nicht das geringste.«
»So kommen Sie doch mit.«
Georg schwang sich auf den Omnibus, der eben weiterzurumpeln begann. Sie erzählten einander beiläufig, wie sie den Sommer verbracht hatten. Heinrich war im Salzkammergut gewesen, später in Deutschland, von wo er erst vor ein paar Tagen zurückgekommen war.
»Ach in Berlin«, meinte Georg.
»Nein.«
»Ich dachte, daß Sie vielleicht in Angelegenheit eines neuen Stückes…«
»Ich habe kein neues Stück geschrieben«, unter brach ihn Heinrich etwas unhöflich.»Ich war im Taunus und am Rhein, in verschiedenen Orten.«
Was hat er denn am Rhein zu tun, dachte Georg, obwohl es ihn nicht weiter interessierte. Es fiel ihm auf, daß Bermann zerstreut, ja beinahe verdüstert vor sich hinschaute.
»Und wie steht's denn mit Ihren Arbeiten, lieber Baron?«fragte Heinrich plötzlich lebhaft, während er den dunkelgrauen Überzieher, der ihm um die Schulter hing, enger um sich schlug.»Ist Ihr Quintett fertig?«
»Mein Quintett?«wiederholte Georg verwundert.»Hab' ich Ihnen denn von meinem Quintett gesprochen?«
»Nein, nicht Sie; aber Fräulein Else sagte mir, daß Sie an einem Quintett arbeiten.«
»Ach so, Fräulein Else. Nein, ich bin nicht viel weiter gekommen. Ich war nicht gerade in der Stimmung, wie Sie sich denken können.«
»Ach ja«, sagte Heinrich und schwieg eine Weile.»Und Ihr Herr Vater war noch so jung«, fügte er langsam hinzu.
Georg nickte wortlos.
»Wie geht's Ihrem Bruder?«fragte Heinrich plötzlich.
»Danke recht gut«, erwiderte Georg etwas befremdet. Heinrich warf seine Zigarre über die Brüstung und zündete sich gleich wieder eine neue an. Dann sagte er:»Sie werden sich wundern, daß ich mich nach Ihrem Bruder erkundige, den ich kaum jemals gesprochen habe. Er interessiert mich aber. Er stellt für mich einen in seiner Art geradezu vollendeten Typus dar, und ich halte ihn für einen der glücklichsten Menschen, die es gibt.«
»Das mag wohl sein«, erwiderte Georg zögernd.»Aber wie kommen Sie eigentlich zu der Ansicht, da Sie ihn kaum kennen?«
»Erstens heißt er Felician Freiherr von Wergenthin-Recco«, sagte Heinrich sehr ernst und blies den Rauch in die Luft.
Georg horchte mit einigem Erstaunen auf.
»Sie heißen wohl auch Wergenthin-Recco«, fuhr Heinrich fort,»aber nur Georg und das ist lang nicht dasselbe, nicht wahr? Ferner ist Ihr Bruder sehr schön. Sie schauen allerdings auch nicht übel aus. Aber Leute, deren hauptsächliche Eigenschaft es ist, schön zu sein, sind doch eigentlich viel besser dran als andre, deren hauptsächliche Eigenschaft es ist, begabt zu sein. Wenn man nämlich schön ist, so ist man es immer, während die Begabten doch mindestens neun Zehntel ihrer Existenz ohne jede Spur von Talent verbringen. Ja, gewiß ist es so. Die Linie des Lebens ist sozusagen reiner, wenn man schön als wenn man ein Genie ist. Übrigens ließe sich das alles besser ausdrücken.«
Was hat er denn, dachte Georg unangenehm berührt. Sollte er vielleicht auf Felician eifersüchtig sein… wegen Else Ehrenberg?
Auf dem Praterstern stiegen sie aus. Der große Strom der Sonntagsmenge flutete ihnen entgegen. Sie nahmen den Weg in die Hauptallee, wo es nicht mehr belebt war, und gingen langsam weiter. Es war kühl geworden. Georg machte Bemerkungen über die herbstliche Abendstimmung, über die Leute, die in den Wirtshäusern saßen, über die Militärkapellen, die in den Kiosken spielten. Heinrich entgegnete anfangs obenhin, später gar nicht und schien endlich kaum zuzuhören, was Georg ungezogen fand. Er bereute es beinahe, sich Heinrich angeschlossen zu haben, umsomehr, als es sonst gar nicht seine Art war, flüchtigen Aufforderungen ohne weiteres zu folgen; und er entschuldigte sich vor sich selbst, daß er es diesmal nur aus Zerstreutheit getan hätte. Heinrich ging neben ihm her, oder auch ein paar Schritte voraus, als hätte er Georgs Anwesenheit vollkommen vergessen. Noch immer hielt er den umgehängten Überzieher mit beiden Händen fest, trug den weichen, dunkelgrauen Hut in die Stirn gedrückt und sah, was Georg plötzlich empfindlich zu stören begann, höchst unelegant aus. Heinrich Bermanns frühere Bemerkungen über Felician kamen ihm nun abgeschmackt und geradezu taktlos vor, und zu rechter Zeit fiel ihm ein, daß so ziemlich alles, was er von den schriftstellerischen Leistungen Heinrichs kannte, ihm wider den Strich gegangen war. Zwei Stücke von ihm hatte er gesehen: eines, das in den untern Volksschichten spielte, unter Handwerkern oder Fabrikarbeitern und mit Mord und Totschlag endete; das andere, eine Art von satirischer Gesellschaftskomödie, bei deren Erstaufführung es einen Skandal gegeben hatte, und die bald wieder vom Repertoire verschwunden war. Übrigens hatte Georg den Autor damals noch nicht persönlich gekannt und an der ganzen Sache kein weiteres Interesse genommen. Er erinnerte sich nur, daß Felician das Stück geradezu lächerlich gefunden und daß Graf Schönstein geäußert hatte, wenn es nach ihm ginge, dürften Stücke von Juden überhaupt nur von der Budapester Orpheumsgesellschaft aufgeführt werden. Insbesondere aber hatte Doktor von Breitner, getauft und objektiv, seiner Empörung Ausdruck gegeben, daß so ein hergelaufener junger Mensch eine Welt auf die Bühne zu bringen wagte, die ihm selbstverständlich verschlossen war und von der er daher unmöglich etwas verstehen konnte. Während Georg all dies wieder einfiel, steigerte sich sein Ärger über das manierlose Weiterlaufen und beharrliche Schweigen seines Begleiters zu einer wahren Feindseligkeit, und halb unbewußt begann er allen Insulten recht zu geben, die damals gegen Bermann vorgebracht worden waren. Er erinnerte sich jetzt auch, daß ihm Heinrich von allem Anfang an persönlich unsympathisch gewesen war, und daß er sich zu Frau Ehrenberg ironisch über die Geschicklichkeit geäußert, mit der sie auch diesen jungen Ruhm sofort für ihren Salon einzufangen gewußt hatte. Else freilich hatte gleich Heinrichs Partei genommen, ihn für einen interessanten und manchmal sogar liebenswürdigen Menschen erklärt und Georg prophezeit, er würde über kurz oder lang mit ihm gut Freund werden. Und tatsächlich war in Georg, zum mindesten von jenem Gespräch heuer im Frühjahr nachts auf der Ringstraßenbank, eine gewisse Sympathie für Bermann zurückgeblieben, die bis zum heutigen Abend vorgehalten hatte.
Längst waren sie an den letzten Gasthäusern vorbei. Neben ihnen lief die weiße Fahrstraße einsam und gerade zwischen den Bäumen in die Nacht hinaus, und sehr entfernte Musik tönte nur mehr in abgerissenen Klängen zu ihnen her.
»Wohin denn noch«, rief Heinrich plötzlich aus, als hätte man ihn wider Willen hierher geschleppt, und blieb stehen.
»Ich kann wirklich nichts dafür«, bemerkte Georg einfach.
»Entschuldigen Sie«, sagte Heinrich.
»Sie waren so sehr in Gedanken vertieft«, entgegnete Georg kühl.
»Vertieft will ich eben nicht sagen. Aber es passiert einem manchmal, daß man sich so in sich selbst verliert.«
»Ich kenne das«, meinte Georg ein wenig versöhnt.
»Man hat Sie übrigens im August auf dem Auhof erwartet«, sagte Heinrich plötzlich.
»Erwartet? Frau Ehrenberg war wohl so freundlich, mich einmal einzuladen, aber ich hatte keineswegs zugesagt. Haben Sie sich längere Zeit dort aufgehalten, Herr Bermann?«
»Längere Zeit, nein. Ich war einige Male oben, aber immer nur auf ein paar Stunden.«
»Ich dachte, Sie hätten oben gewohnt.«
»Keine Idee. Ich hab' unten im Gasthof logiert. Ich bin nur gelegentlich hinauf gekommen. Es ist mir dort zu laut und bewegt… das Haus wimmelt ja von Besuchen. Und die Mehrzahl der Leute, die dort verkehren, kann ich nicht ausstehen.«
Ein offener Fiaker, in dem ein Herr und eine Dame saßen, fuhr an ihnen vorüber.
»Das war ja Oskar Ehrenberg«, sagte Heinrich.
»Und die Dame?«fragte Georg und sah etwas Hellem nach, das durch die Dunkelheit leuchtete.
»Kenn' ich nicht.«
Sie nahmen den Weg durch eine finstere Seitenallee. Wieder stockte das Gespräch. Endlich begann Heinrich:»Fräulein Else hat mir auf dem Auhof ein paar von Ihren Liedern vorgesungen. Einige hatte ich übrigens schon gehört, von der Bellini, glaub' ich.«
»Ja, die Bellini hat sie vorigen Winter in einem Konzert gesungen.«
»Nun, diese Lieder und einige andre von Ihnen sang Fräulein Else.«
»Wer hat sie denn begleitet?«
»Ich selbst, so gut ich eben konnte. Ich muß Ihnen übrigens sagen, lieber Baron, die Lieder haben eigentlich noch einen stärkern Eindruck auf mich gemacht, als das erstemal im Konzert, trotzdem Fräulein Else ja beträchtlich weniger Stimme und Kunstfertigkeit besitzt, als Fräulein Bellini. Andererseits muß man freilich bedenken, daß es ein prachtvoller Sommernachmittag war, an dem Fräulein Else Ihre Lieder sang. Das Fenster stand offen, man sah drüben die Berge und den tiefblauen Himmel… aber es bleibt noch immer genug für Sie übrig.«
»Sehr schmeichelhaft«, sagte Georg, von Heinrichs spöttelndem Ton peinlich berührt.
»Wissen Sie«, fuhr Heinrich fort und sprach, wie er es manchmal tat, mit zusammengepreßten Zähnen und unnötig heftiger Betonung,»wissen Sie, es ist im allgemeinen nicht meine Gewohnheit, Leute, die ich zufällig auf der Straße sehe, auf den Omnibus heraufzubitten, und ich will es ihnen lieber gleich gestehen, daß ich es… wie sagt man nur… als einen Wink des Schicksals betrachtet habe, wie ich Sie plötzlich auf dem Stephansplatz erblickte.«
Georg hörte ihn verwundert an.
»Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr so gut als ich«, fuhr Heinrich fort,»an unser letztes Gespräch auf jener Ringstraßenbank.«
Nun erst fiel es Georg ein, daß Heinrich damals ganz flüchtig von einem Opernstoff gesprochen, der ihn beschäftigte, worauf Georg ebenso beiläufig, und eher scherzhaft, sich als Komponisten angeboten hatte. Und absichtlich kühl entgegnete er:»Ach ja, ich erinnere mich.«
»Nun, das verpflichtet Sie zu nichts«, erwiderte Heinrich noch kühler als der andere,»um so weniger, als ich, die Wahrheit zu sagen, an meinen Opernstoff überhaupt nicht mehr gedacht hatte, bis zu jenem schönen Sommernachmittag, an dem Fräulein Else Ihre Lieder sang. Wie wär's übrigens, wenn wir uns hier niederließen?«
Der Gasthausgarten, in den sie eintraten, war ziemlich leer. Heinrich und Georg nahmen in einer kleinen Laube, nächst dem grünen Staketgitter, Platz und bestellten ihr Nachtmahl.
Heinrich lehnte sich zurück, streckte seine Beine aus, betrachtete Georg, der beharrlich schwieg, mit prüfenden, fast spöttischen Augen und sagte plötzlich:»Ich glaube mich übrigens nicht zu irren, wenn ich annehme, daß Ihnen die Sachen, die ich bisher gemacht habe, nicht gerade ans Herz gewachsen sind.«
»O«, erwiderte Georg und errötete ein wenig,»wie kommen Sie zu dieser Ansicht?«
»Nun ich kenne meine Stücke… und kenne Sie.«
»Mich?«fragte Georg beinahe verletzt.
»Gewiß«, erwiderte Heinrich überlegen.»Übrigens habe ich den meisten Menschen gegenüber diese Empfindung und halte diese Fähigkeit sogar für meine einzige absolute, unzweifelhafte. Alle übrigen sind ziemlich problematisch, find' ich. Insbesondere ist meine sogenannte Künstlerschaft etwas durchaus mäßiges, und auch gegen meine Charaktereigenschaften wäre manches einzuwenden. Das einzige, was mir eine gewisse Sicherheit gibt, ist eigentlich nur das Bewußtsein, in menschliche Seelen hineinschauen zu können… tief hinein, in alle, in die von Schurken und ehrlichen Leuten, in die von Frauen und Männern und Kindern, in die von Heiden, Juden, Protestanten, ja selbst in die von Katholiken, Adeligen und Deutschen, obwohl ich gehört habe, daß gerade das für unsereinen so unendlich schwer, oder sogar unmöglich sein soll.«
Georg zuckte leicht zusammen. Er wußte, daß Heinrich insbesondere bei Gelegenheit seines letzten Stückes von konservativen und klerikalen Blättern persönlich aufs heftigste angegriffen worden war. Aber was geht das mich an, dachte Georg. Schon wieder einer, den man beleidigt hat! Es war wirklich absolut ausgeschlossen, mit diesen Leuten harmlos zu verkehren. Höflich, fremd, in einer ihm selbst kaum bewußten Erinnerung an die Erwiderung des alten Herrn Rosner gegenüber dem jungen Doktor Stauber, äußerte er:»Eigentlich dachte ich mir, daß Menschen wie Sie über Angriffe von jener Art, auf die Sie offenbar anspielen, erhaben wären.«
»So… dachten Sie das?«fragte Heinrich in dem kalten, beinahe abstoßenden Ton, der ihm manchmal eigen war.»Nun«, fuhr er milder fort,»zuweilen stimmt es ja. Aber leider nicht immer. Es braucht nicht viel dazu, um die Selbstverachtung aufzuwecken, die stets in uns schlummert; und wenn das einmal geschehen ist, gibt es keinen Tropf und keinen Schurken, mit dem wir uns nicht innerlich gegen uns selbst verbünden. Entschuldigen Sie, wenn ich ›wir‹ sage…«
»O, ich habe schon ganz ähnliches empfunden. Freilich hatte ich noch nicht Gelegenheit, der Öffentlichkeit so oft und so exportiert gegenüberzustehen, wie Sie.«
»Nun wenn auch… ganz das Gleiche wie ich werden Sie doch niemals durchzumachen haben.«
»Warum denn?«fragte Georg ein wenig gekränkt.
Heinrich sah ihm scharf ins Auge.»Sie sind der Freiherr von Wergenthin-Recco.«
»O darum! Ich bitte Sie, es gibt heutzutage eine ganze Menge Leute, die gerade deswegen gegen einen voreingenommen sind und es einem gelegentlich vorzuhalten wissen, daß man Baron ist.«
»Ja, ja, aber es liegt doch ein anderer Ton darin, das werden Sie mir zugeben, und auch ein anderer Sinn, wenn man einem den Freiherrn, als wenn man einem den Juden ins Gesicht schleudert, obzwar das letztere bisweilen… Sie verzeihen schon… der bessere Adel sein mag. Nun, Sie brauchen mich nicht so mitleidig anzuschauen«, setzte er plötzlich grob hinzu.»Ich bin nicht immer so empfindlich. Es gibt auch andre Stimmungen, in denen mir überhaupt nichts und niemand etwas anhaben kann. Da hab ich nur dieses eine Gefühl: was wißt Ihr denn alle, was wißt Ihr denn von mir…«
Er schwieg, stolz, mit einem höhnischen Blick, der sich durch das Blätterwerk der Laube ins Dunkle bohrte. Dann wandte er den Kopf, sah ringsumher und sagte einfach, in einem neuen Ton, zu Georg:»Sehen Sie doch, wir sind bald die einzigen.«
»Es wird auch recht kühl«, sagte Georg.
»Ich denke, wir bummeln noch ein wenig durch den Prater.«
»Gern.«
Sie erhoben sich und gingen. Auf einer Wiese, an der sie vorüberkamen, lag feiner, grauer Nebel.
»Bis in die Nacht hält die Sommerlüge doch nicht mehr an. Nun wird es bald endgültig vorbei sein«, sagte Heinrich mit unverhältnismäßiger Bedrücktheit, und wie zum eigenen Trost fügte er hinzu:»Nun, man wird arbeiten.«
Sie kamen in den Wurstelprater. Aus den Gasthäusern tönte Musik, und Georg teilte sich sofort etwas von der fröhlich-lauten Stimmung mit, in die er nun mit einem Male aus den Traurigkeiten eines herbstlichen Wirtshausgartens und einer etwas gequälten Unterhaltung geraten war.
Vor einem Ringelspiel, aus dem ein riesiger Leierkasten phantastisch-orgelhaft ein Potpourri aus dem»Troubadour«ins Freie sandte und an dessen Eingang ein Ausrufer zur Reise nach London, Atzgersdorf und Australien aufforderte, erinnerte sich Georg wieder der Frühjahrspartie mit der Ehrenbergschen Gesellschaft. Auf dieser schmalen Bank, im Innern des Raumes, war Frau Oberberger gesessen, den Kavalier des Abends, Demeter Stanzides, zur Seite und hatte ihm wahrscheinlich eine ihrer unglaublichen Geschichten erzählt: daß ihre Mutter die Geliebte eines russischen Großfürsten gewesen; daß sie selbst mit einem Anbeter eine Nacht auf dem Hallstädter Friedhof verbracht, natürlich ohne daß etwas geschehen war; oder daß ihr Gatte, der berühmte Reisende, in einem Harem zu Smyrna in einer Woche siebzehn Frauen erobert hatte. In diesem rotsamtgepolsterten Wägelchen, mit Hofrat Wilt als Gegenüber, hatte Else gelehnt, damenhaft anmutig, ungefähr wie in einem Fiaker am Derbytag und hatte doch verstanden, durch Haltung und Miene zum Ausdruck zu bringen, daß sie, wenn es darauf ankäme, gerade so kindlich sein konnte wie andre einfältige, glücklichere Menschen. Anna Rosner, lässig die Zügel in der Hand, würdig, aber mit einem etwas verschmitzten Gesicht, ritt einen weißen Araber; Sissy wiegte sich auf einem Rappen, der sich nicht nur im Kreise mit den andern Tieren und Wagen drehte, sondern außerdem hin und herschaukelte. Unter der kühnen Frisur mit dem riesigen, schwarzen Federhut blitzten und lachten die frechsten Augen, über den ausgeschnittenen Lackschuhen und durchbrochenen Strümpfen flatterte und flog der weiße Rock. Auf zwei fremde Herren hatte Sissys Erscheinung so seltsam gewirkt, daß sie ihr eine unzweideutige Einladung zuriefen, worauf eine kurze, geheimnisvolle Unterhaltung zwischen Willy, der sofort zur Stelle war, und den zwei ziemlich betretenen Herren erfolgte, die anfangs durch das nonchalante Anzünden neuer Zigaretten ihre Position zu retten versuchten, aber dann plötzlich in der Menge verschwunden waren.
Auch die Bude mit den»Illusionen«und Lichtbildern hatte für Georg ihre besondere Erinnerung. Hier, während Daphne sich in einen Baum verwandelte, hatte ihm Sissy ein leises»remember«ins Ohr geflüstert und ihm damit den Maskenball bei Ehrenbergs ins Gedächtnis gerufen, an dem sie, wohl nicht für ihn allein, den Spitzenschleier zu einem flüchtigen Kuß gelüftet hatte. Dann kam die Hütte, wo die ganze Gesellschaft sich hatte photographieren lassen: die drei jungen Mädchen, Anna, Else und Sissy in genienhafter Pose, die Herren mit himmelnden Augen ihnen zu Füßen, so daß das Ganze etwa ausgesehen hatte, wie die Apotheose aus einer Zauberposse. Und während Georg sich jener kleinen Erlebnisse entsann, schwebte ihm immer der heutige Abschied von Anna durch die Erinnerung und schien ihm von den angenehmsten Verheißungen erfüllt.
Vor einer offenen Schießbude standen auffallend viel Leute. Bald war der Trommler ins Herz getroffen und wirbelte mit flinken Schlägen auf dem Fell, bald zersprang leise klirrend eine Glaskugel, die auf einem Wasserstrahl hin und her getanzt war, bald führte eine Marketenderin eiligst die Trompete zum Mund und blies drohend Appell, bald donnerte aus aufgesprungenem Tor eine kleine Eisenbahn, sauste über eine fliegende Brücke und wurde von einem andern Tor verschlungen. Da einige Zuschauer sich allmählich entfernten, rückten Georg und Heinrich vor und er kannten in den sichern Schützen Oskar Ehrenberg und seine Dame. Eben richtete Oskar das Gewehr auf einen Adler, der sich nahe der Decke mit ausgebreiteten Flügeln auf und ab bewegte, und fehlte zum erstenmal. Indigniert legte er die Waffe nieder, sah sich um, erblickte die beiden Herren hinter sich und begrüßte sie.
Die junge Dame, das Gewehr an der Wange, warf einen flüchtigen Blick auf die Neuangekommenen, visierte gleich wieder angelegentlich und drückte ab. Der Adler ließ den getroffenen Flügel sinken und bewegte sich nicht mehr.
»Bravo«, rief Oskar.
Die Dame legte das Gewehr vor sich auf den Tisch hin.
»Is genug«, sagte sie zu dem Jungen, der von neuem laden wollte,»g'wonnen hab ich eh.«
»Wie viel Schuß warens?«fragte Oskar.
»Vierzig«, antwortete der Junge,»macht achtzig Kreuzer. Oskar griff in die Westentasche, warf einen Silbergulden hin und nahm den Dank des Ladenjungen mit Herablassung entgegen.»Erlaube«, sagte er dann, indem er beide Hände in die Seiten stützte, den Oberkörper leicht nach vorn bewegte und den linken Fuß vorwärts setzte,»erlaube Amy, daß ich dir die Herren vorstelle, welche Zeugen deiner Triumphe waren. Baron Wergenthin, Herr von Bermann… Fräulein Amelie Reiter.«
Die Herren lüfteten ihre Hüte, Amelie nickte zum Gegengruß ein paarmal hintereinander mit dem Kopf. Sie trug ein einfaches, weiß gemustertes Foulardkleid, darüber eine leichte Mantille von hellem Gelb mit Spitzen umsäumt und einen schwarzen, aber sehr vergnügten Hut.»Den Herrn von Bermann kenn ich ja«, sagte sie. Sie wandte sich an ihn:»Bei der Premiere von Ihrem Stück im vorigen Winter hab ich Sie gesehen, wie Sie herausgekommen sind sich verbeugen. Ich habe mich sehr gut unterhalten. Nicht, daß ich Ihnen das vielleicht aus Höflichkeit sag.«
Heinrich dankte ernst.
Sie spazierten weiter zwischen Buden, vor denen es stiller wurde, an Wirtshausgärten vorbei, die sich allmählich leerten.
Oskar schob seinen rechten Arm in den linken seiner Begleiterin, dann wandte er sich an Georg:»Warum sind Sie denn heuer nicht auf dem Auhof gewesen? Wir haben alle sehr bedauert.«
»Ich war leider in wenig geselliger Stimmung.«
»Natürlich, kann ich mir denken«, sagte Oskar mit dem gebotenen Ernst.»Ich war übrigens auch nur ein paar Wochen dort. Im August hab ich meine müden Glieder in den Wogen der Nordsee gestärkt, ich war nämlich auf der Isle of Wight.«
»Dort soll es ja sehr schön sein«, sagte Georg,»wer geht denn nur immer hin?«
»Die Wyners, meinen Sie«, erwiderte Oskar.»Wenigstens wie sie noch in London gelebt haben, sind sie regelmäßig dort gewesen. Jetzt nur mehr alle zwei, drei Jahre.«
»Aber das Ypsilon haben sie auch für Österreich beibehalten«, sagte Georg lächelnd.
Oskar blieb ernst.»Der alte Herr Wyner«, erwiderte er»hat sich sein Recht auf das Ypsilon ehrlich erworben. Er ist schon in seinem dreizehnten Jahr nach England gekommen, hat sich dort naturalisieren lassen und als ganz junger Mensch ist er Kompagnon der großen Stahlfabrik geworden, die jetzt noch immer Black und Wyner heißt.«
»Aber seine Frau hat er sich doch aus Wien geholt?«
»Ja. Und wie er vor sieben oder acht Jahren gestorben ist, ist sie mit den zwei Kindern hierher übersiedelt. Aber James wird sich hier nie eingewöhnen… der Lord Antinous, Sie wissen ja, daß Frau Oberberger ihn so nennt. Jetzt ist er wieder in Cambridge, wo er seltsamerweise griechische Philologie studiert. Im übrigen ist auch Demeter ein paar Tage in Ventnor gewesen.«
»Stanzides?«ergänzte Georg.
»Kennen Sie den Herrn von Stanzides, Herr Baron?«fragte Amy.
»Jawohl.«
»Also existiert er richtig«, rief sie aus.
»Ja aber hörst du«, sagte Oskar.»Heuer im Frühjahr hat sie in der Freudenau auf ihn gesetzt und hat eine Masse Geld gewonnen, und jetzt fragt sie, ob er existiert.«
»Warum zweifeln Sie denn an der Existenz von Stanzides, Fräulein?«fragte Georg.
»Ja wissen Sie, alleweil, wenn ich nicht weiß, wo er is, der Oskar, heißts: ich hab ein Rendezvous mit'n Stanzides, oder: ich reit mit'n Stanzides in' Prater. Stanzides hin, Stanzides her, es klingt mehr wie eine Ausred, als wie ein Nam.«
»Jetzt schweig aber endlich einmal still«, sagte Oskar mild.
»Stanzides existiert nicht nur«, erklärte Georg,»sondern er hat den schönsten, schwarzen Schnurrbart und die glühendsten schwarzen Augen, die es überhaupt gibt.«
»Das is schon möglich, aber wie ich ihn g'sehn hab, hat er ausg'schaut wie ein Wurstel. Gelber Janker, grünes Kappel, violette Schleifen.«
»Und sie hat vierzig Gulden auf ihn gewonnen«, ergänzte Oskar humoristisch.
»Wo sind die vierzig Gulden«, seufzte Fräulein Amelie… Plötzlich blieb sie stehen und rief:»Da bin ich aber noch nie mitgefahren.«
»Das kann ja nachgeholt werden«, sagte Oskar einfach.
Es war das Riesenrad, das sich vor ihnen mit seinen beleuchteten Wagen langsam, majestätisch drehte. Die jungen Leute passierten das Tourniquet, stiegen in ein leeres Kupee und schwebten empor.
»Wissen Sie, Georg, wen ich heuer im Sommer kennen gelernt habe?«sagte Oskar,»den Prinzen von Guastalla.
»Welchen?«fragte Georg.
»Den jüngsten natürlich, Karl Friedrich. Er ist inkognito dort gewesen. Er ist sehr gut mit dem Stanzides, ein merkwürdiger Mensch. Ich kann Sie versichern«, setzte er leise hinzu,»wenn unsereins den hundertsten Teil von den Sachen reden möcht wie der Prinz, wir kämen unser Lebtag aus dem schweren Kerker nicht heraus.«
»Schau Oskar«, rief Amy,»die Tische und die Leut da unten! Wie aus einem Schachterl, nicht wahr? Und die Masse Lichter dort, ganz weit, da gehts sicher nach Prag. Glauben S' nicht, Herr Bermann?«
»Möglich«, erwiderte Heinrich und starrte mit gefalteter Stirn durch die gläserne Wand in die Nacht hinaus.
Als sie das Kupee verließen und ins Freie traten, war der Sonntagslärm im Verrauschen.
»Die Kleine«, sagte Oskar Ehrenberg zu Georg, während Amy mit Heinrich vorausging,»die ahnt auch nicht, daß wir heute das letztemal zusammen im Prater spazieren gehen.«
»Warum denn das letztemal?«fragte Georg ohne tieferes Interesse.
»Es muß sein«, erwiderte Oskar.»Solche Sachen dürfen nicht länger dauern als höchstens ein Jahr. Sie können sich übrigens vom Dezember an bei ihr Ihre Handschuhe kaufen«, fügte er heiter, aber nicht ohne Wehmut hinzu.»Ich richte ihr nämlich ein kleines Geschäft ein. Das bin ich ihr gewissermaßen schuldig, denn ich hab sie aus einer ziemlich sichern Situation herausgerissen.«
»Aus einer sichern?«
»Ja, sie war verlobt. Mit einem Etuimacher. Haben Sie gewußt, daß es das gibt?«
Indessen war Amy und Heinrich vor einer Wendeltreppe stehen geblieben, die eng und kühn zu einem Plateau hinaufführte, und erwarteten die andern. Alle waren darüber einig, daß man den Prater nicht verlassen durfte, ohne auf der Rutschbahn gefahren zu sein.
Sie sausten durchs Dunkel, hinab und wieder hinauf, im dröhnenden Wagen, unter schwarzen Wipfeln; und dem dumpf rhythmischen Lärm entklang für Georg allmählich ein groteskes Motiv im Dreivierteltakt. Während er mit den andern die Wendeltreppe hinabstieg, wußte er auch schon, daß die Melodie von Oboe und Klarinette gebracht und von Cello und Kontrabaß begleitet werden müsse. Offenbar war es ein Scherzo, vielleicht für eine Symphonie.
»Wenn ich ein Unternehmer wäre«, erklärte Heinrich mit Entschiedenheit,»so ließ ich eine Rutschbahn bauen, viele Meilen lang, die ginge über Wiesen, Abhänge, durch Wälder, Tanzsäle; auch für Überraschungen auf dem Weg wäre gesorgt.«Jedenfalls, so fand er weiter, wäre nun die Zeit gekommen, das phantastische Element im Wurstelprater zu höherer Entfaltung zu bringen. Er selbst hätte vorläufig die Idee für ein Ringelspiel, das sich hoch und durch einen merkwürdigen Mechanismus, spiralig immer höher über den Erdboden drehen müsse, um endlich in einer Art von Turmspitze anzulangen. Leider mangelten ihm die notwendigen technischen Vorkenntnisse zur näheren Erklärung. Im Weitergehen erfand er burleske Figuren und Gruppen für die Schießbuden und sprach endlich die dringende Forderung nach einem großartigen Kasperltheater aus, für das originelle Dichter tiefsinnig-heitere Stücke entwerfen müßten.
So war man an den Ausgang des Praters gelangt, wo Oskars Wagen wartete. Gedrängt, aber gut gelaunt fuhren sie nach einem Weinrestaurant in der Stadt. In einem separierten Zimmer ließ Oskar Champagner auftragen. Georg setzte sich ans Klavier und phantasierte über das Thema, das ihm auf der Rutschbahn eingefallen war. Amy lehnte in der Divanecke, und Oskar flüsterte ihr allerhand ins Ohr, worüber sie lachen mußte. Heinrich war wieder stumm geworden und drehte sein Glas langsam zwischen den Fingern hin und her. Plötzlich hielt Georg im Spielen inne und ließ die Hände auf den Tasten liegen. Ein Gefühl von der Traumhaftigkeit und Zwecklosigkeit des Daseins kam über ihn, wie manchmal, wenn er Wein getrunken hatte. Viele Tage war es her, daß er eine schlecht beleuchtete Treppe in der Paulanergasse hinuntergegangen war, und der Spaziergang mit Heinrich durch die herbstdunkle Allee lag in fernster Vergangenheit. Hingegen erinnerte er sich plötzlich so lebhaft, als wär es gestern gewesen, eines sehr jungen und sehr verdorbenen Wesens, mit dem er vor vielen Jahren ein paar Wochen in heiter-unsinniger Art verbracht hatte, etwa so wie Oskar Ehrenberg jetzt mit Amy. Eines Abends hatte sie ihn auf der Straße zu lange warten lassen, ungeduldig war er fort gegangen und hatte nie wieder etwas von ihr gehört oder gesehen. Wie leicht sich das Leben zuweilen anließ… Er hörte das leise Lachen Amys, wandte sich und sein Blick begegnete den Augen Oskars, die über den blonden Kopf Amys hinweg die seinen suchten. Er empfand diesen Blick als ärgerlich, wich ihm absichtlich aus und schlug wieder einige Töne an, in volksliedartiger, melancholischer Weise. Er spürte Lust, all das aufzuzeichnen, was ihm heute eingefallen war, und sah auf die Uhr, die über der Tür hing. Es war eins vorbei. Dann verständigte er sich mit Heinrich durch einen Blick, und beide erhoben sich. Oskar deutete auf Amy, die an seiner Schulter eingeschlummert war, und gab durch ein lächelndes Achselzucken zu verstehen, daß er unter diesen Umständen noch nicht ans Fortgehen denken könne. Die beiden andern reichten ihm die Hände, flüsterten ihm gute Nacht zu und entfernten sich.
»Wissen Sie, was ich getan hab«, sagte Heinrich,»während Sie auf dem gräßlichen Pianino so wunderhübsch phantasierten? Ich hab versucht mir den Stoff zurecht zu legen, von dem ich Ihnen im Frühjahr gesprochen hab.«
»Ah den Opernstoff! Das ist ja interessant. Wollen Sie ihn mir nicht einmal erzählen?«
Heinrich schüttelte den Kopf.»Ich möchte schon, aber das Malheur ist nur, wie sich eben herausgestellt hat, daß er eigentlich gar nicht vorhanden ist. Wie die meisten andern von meinen sogenannten Stoffen.«
Georg sah ihn fragend an.»Im Frühjahr, wie wir uns das letztemal gesehen haben, da hatten Sie ja eine ganze Menge vor.«
»Ja aufnotiert ist gar viel. Aber heut ist nichts mehr davon da als Sätze… Nein, Worte! Nein, Buchstaben auf weißem Papier. Es ist geradeso, wie wenn eine Totenhand alles berührt hätte. Ich fürchte, nächstens einmal, wenn ich das Zeug nur angreife, fällt es auseinander wie Zunder. Ja, ich hab eine schlechte Zeit; und wer weiß, ob je noch eine bessre kommen wird.«
Georg schwieg. Dann, mit einer plötzlichen Erinnerung an eine Zeitungsnotiz, die er irgendwo über Heinrichs Vater, den ehemaligen Abgeordneten Dr. Bermann gelesen hatte, und einen Zusammenhang vermutend, fragte er:»Ihr Herr Vater ist leidend, nicht wahr?«
Ohne ihn anzusehen, erwiderte Heinrich:»Ja. Mein Vater ist in einer Anstalt für Gemütskranke, schon seit dem Juni.«
Georg schüttelte teilnahmsvoll den Kopf.
Heinrich fuhr fort:»Ja, das ist eine furchtbare Sache. Wenn ich auch in der letzten Zeit in keinem sehr nahen Verhältnis zu ihm gestanden bin, es ist und bleibt furchtbarer, als man es sagen kann.«
»Unter solchen Umständen«, meinte Georg,»ist es ja sehr begreiflich, daß es mit der Arbeit nicht recht gehen will.«
»Ja«, erwiderte Heinrich wie zögernd.»Aber es ist nicht das allein. Die Wahrheit zu sagen, in meinem augenblicklichen Seelenzustand spielt diese Sache eine verhältnismäßig geringfügige Rolle. Ich will mich nicht besser machen, als ich bin. Besser…! Wär ich dann besser…?«Er lachte kurz, dann sprach er weiter.»Sehen Sie, gestern dacht ich auch noch, es wäre alles mögliche zusammen, was mich so niederdrückt. Aber heute hab ich wieder einmal einen untrüglichen Beweis dafür erhalten, daß mich ganz nichtige, ja läppische Dinge tiefer berühren, als sehr wesentliche, wie zum Beispiel die Erkrankung meines Vaters. Widerwärtig, was?«
Georg sah vor sich hin. Warum begleit' ich ihn eigentlich, dachte er, und warum findet er es ganz selbstverständlich?
Heinrich sprach weiter mit zusammengepreßten Zähnen und mit überflüssig heftigem Ton:»Heute Nachmittag hab ich nämlich zwei Briefe bekommen. Zwei Briefe, ja… einen von meiner Mutter, die gestern meinen Vater in der Anstalt besucht hat. Dieser Brief enthielt die Nachricht, daß es ihm schlecht geht, sehr schlecht; kurz und gut, es wird wohl nicht lange mehr dauern.«Er atmete tief auf.»Und natürlich hängt da noch allerlei daran, wie Sie sich denken können. Schwierigkeiten verschiedener Art, Sorgen für meine Mutter und meine Schwester, für mich. Und nun denken Sie; zugleich mit diesem Brief kam ein anderer, der gar nichts von Bedeutung enthielt, so zu sagen. Ein Brief von einer Person, die mir zwei Jahre hindurch nahe stand. Und in diesem Brief war eine Stelle, die mir ein bißchen verdächtig erschien. Eine einzige Stelle… Sonst war dieser Brief, wie alle Briefe dieser Person sind, sehr liebevoll, sehr nett… Und jetzt stellen Sie sich vor, den ganzen Tag verfolgt mich, peinigt mich die Erinnerung an diese eine verdächtige Stelle, die ein anderer überhaupt nicht bemerkt hätte. Ich denke nicht an meinen Vater, der im Irrenhaus ist, nicht an meine Mutter, meine Schwester, die verzweifeln, nur an diese unbedeutende Stelle in diesem dummen Brief eines durchaus nicht hervorragenden Frauenzimmers. Die frißt alles in mir auf, macht mich unfähig zu fühlen wie ein Sohn, wie ein Mensch… Ist es nicht scheußlich?«
Befremdet hörte Georg zu. Es erschien ihm sonderbar, wie dieser schweigsame, verdüsterte Mensch sich ihm, dem flüchtig Bekannten, mit einem Male aufschloß, und er konnte sich dieser unerwarteten Offenheit gegenüber einer peinlichen Verlegenheit nicht erwehren. Auch hatte er nicht den Eindruck, daß er diese Geständnisse einer besonderen Sympathie Heinrichs verdankte, sondern spürte darin eher einen Mangel an Takt, eine gewisse Unfähigkeit der Selbstbeherrschung, irgend etwas wofür ihm das Wort»schlechte Erziehung«, das er schon irgend einmal war es nicht von Hofrat Wilt? auf Heinrich anwenden gehört hatte, sehr bezeichnend erschien. Sie gingen eben am Burgtor vorüber. Ein sternenloser Himmel lag über der stummen Stadt. Durch die Bäume des Volksgartens rauschte es leise, irgendwoher drang das Geräusch eines rollenden Wagens, der sich entfernte.
Da Heinrich wieder schwieg, blieb Georg stehen und sagte in möglichst freundlichem Tone:»Nun muß ich mich doch von Ihnen verabschieden, lieber Herr Bermann.«
»O«, rief Heinrich,»jetzt merk ich erst, daß Sie mich ein ganzes Stück begleitet haben und ich erzähl Ihnen oder vielmehr mir in Ihrer Gegenwart, taktloserweise lauter Geschichten, die Sie nicht im geringsten interessieren können… verzeihen Sie.«
»Was gibts da zu verzeihen«, erwiderte Georg leise, kam sich gegenüber dieser Selbstanklage Heinrichs ein wenig wie ertappt vor und reichte ihm die Hand. Heinrich nahm sie, sagte»auf Wiedersehen, lieber Baron«, und als hielte er plötzlich jedes weitere Wort für eine Zudringlichkeit, entfernte er sich eilig.
Georg sah ihm nach, mit Teilnahme und Widerwillen zugleich, und eine plötzliche freie, beinahe glückliche Stimmung kam über ihn, in der er sich jung, sorgenlos und zu der schönsten Zukunft bestimmt erschien. Er freute sich auf den Winter, der vor der Türe war. Alles mögliche stand in Aussicht. Arbeit, Unterhaltung, Zärtlichkeit, und es war im Grunde gleichgültig, von wo alle diese Freuden kommen mochten. Bei der Oper zögerte er einen Augenblick. Wenn er durch die Paulanergasse nach Hause ging, so bedeutete es keinen beträchtlichen Umweg. Er lächelte in der Erinnerung an Fensterpromenaden früherer Jahre. Nicht fern von hier lag die Straße, wo er manche Nacht zu einem Fenster aufgeblickt hatte, hinter dessen Vorhängen sich Marianne zu zeigen pflegte, wenn ihr Gatte eingeschlafen war. Diese Frau, die stets mit Gefahren spielte, an deren Ernst sie selbst nicht glaubte, war Georg nie wirklich wert gewesen… Eine andre Erinnerung, ferner als diese, war um viel holdseliger. In Florenz, als siebzehnjähriger Jüngling war er manche Nacht vor dem Fenster eines schönen Mädchens auf und abgegangen, des ersten weiblichen Wesens, das sich ihm, dem Unberührten, als Jungfrau gegeben hatte. Und er dachte der Stunde, an der er die Geliebte am Arm des Bräutigams zum Altar hatte schreiten sehen, wo der Priester die Ehe einsegnen sollte, des Blicks, den sie unter dem weißen Schleier zu ewigem Abschied ihm herüber gesandt hatte… Er war am Ziele. Nur an den beiden Enden der kurzen Gasse brannten noch die Laternen, so daß er dem Hause gegenüber völlig im Dunkel stand. Das Fenster von Annas Zimmer war offen, und wie am Nachmittag bewegten die zusammengesteckten Tüllvorhänge sich leise im Wind. Dahinter war es ganz dunkel. Eine sanfte Zärtlichkeit regte sich in Georg. Von allen Wesen, die jemals ihre Neigung ihm nicht verhehlt hatten, schien Anna ihm die beste und reinste. Auch war sie wohl die erste, die seinen künstlerischen Bestrebungen Teilnahme entgegenbrachte, eine echtere jedenfalls als Marianne, der die Tränen über die Wangen gerollt waren, was immer er ihr auf dem Klavier vorspielen mochte; eine tiefre auch als Else Ehrenberg, die sich ja doch nur das stolze Bewußtsein sichern wollte, als erste sein Talent erkannt zu haben. Und wenn irgend eine, so war Anna dazu geschaffen, seinem Hang zur Verspieltheit und zur Nachlässigkeit entgegenzuwirken, ihn zu zielbewußter und erwerbbringender Tätigkeit anzuhalten. Schon im letzten Winter hatte er daran gedacht, sich um eine Stelle an einer deutschen Opernbühne als Kapellmeister oder Korrepetitor umzusehen; bei Ehrenbergs hatte er flüchtig von seinen Absichten gesprochen, die nicht sehr ernst genommen wurden, und Frau Ehrenberg, mütterlich und weltklug, hatte ihm geraten doch lieber eine Tournee als Komponist und Dirigent durch die Vereinigten Staaten zu unternehmen, worauf Else vorlaut hinzugefügt hatte:»Und eine amerikanische Erbin wär auch nicht zu verachten.«Während er sich dieses Gesprächs erinnerte, behagte er sich sehr in der Idee, ein bißchen in der Welt herumzuabenteuern, wünschte sich, fremde Städte und Menschen kennen zu lernen, irgendwo im Weiten allerlei Liebe und Ruhm zu gewinnen, und fand am Ende, daß seine Existenz im ganzen viel zu ruhig und einförmig dahinflösse.
Längst, ohne innerlich von Anna Abschied genommen zu haben, hatte er die Paulanergasse verlassen und bald war er zu Hause. Als er ins Speisezimmer trat, sah er, daß aus dem Zimmer Felicians Licht schimmerte.
»Guten Abend, Felician«, rief er laut.
Die Türe wurde geöffnet, und Felician, noch völlig angekleidet, trat heraus.
Die Brüder reichten sich die Hände.
»Du kommst auch erst jetzt nach Hause?«sagte Felician.»Ich habe gedacht, du schläfst schon lang.«Während er sprach, sah er, wie das seine Art war, an ihm vorbei und neigte den Kopf nach der rechten Seite.»Was hast du denn getrieben?«
»Ich war im Prater«. erwiderte Georg.
»Allein?«
»Nein, ich habe Leute getroffen. Den Oskar Ehrenberg mit seiner Dame und den Schriftsteller Bermann. Wir haben geschossen und sind Rutschbahn gefahren. Es war ganz lustig… Was hast du denn da in der Hand?«unterbrach er sich.»Bist du so spazieren gegangen?«fügte er scherzend hinzu.
Felician ließ den Degen, den er in der Rechten hielt, im Licht der Lampe schimmern.»Ich habe ihn eben von der Wand herunter genommen. Morgen fang ich wieder ernstlich an. Das Tournier ist schon Mitte November. Und heuer will ichs auch gegen Forestier versuchen.«
»Donnerwetter«, rief Georg.
»Eine Unverschämtheit, denkst du dir, was? Aber bis Mitte November ist noch lang. Und das merkwürdige ist, ich habe das Gefühl, als wenn ich heuer im Sommer, gerade in den sechs Wochen, während ich das Ding da gar nicht in der Hand gehabt habe, was zugelernt hätte. Es ist, wie wenn mein Arm indessen auf neue Ideen gekommen wäre. Ich kann dir das nicht recht erklären.«
»Ich verstehe schon, was du meinst.«
Felician hielt den Degen ausgestreckt vor sich hin und betrachtete ihn mit Zärtlichkeit. Dann sagte er:»Ralph hat sich nach dir erkundigt, Guido auch… schad, daß du nicht mit warst.«
»Hast du den ganzen Nachmittag mit ihnen verbracht?«
»O nein! Nach dem Essen bin ich zu Haus geblieben. Du mußt grad fortgegangen sein. Ich hab studiert.«
»Studiert?«
»Ja. Ich muß mich jetzt ernstlich dranmachen. Im Mai spätestens will ich die Diplomatenprüfung ablegen.«
»Du bist also vollkommen entschlossen?«
»Absolut. In der Statthalterei zu bleiben hat wirklich keinen Sinn für mich. Je länger ich drin sitz', umso klarer wird mir das. Die Zeit wird übrigens nicht verloren sein. Sie haben's gar nicht ungern, wenn einer ein paar Jahre internen Dienst gemacht hat.«
»Da wirst du also wahrscheinlich schon im Herbst von Wien fortgehen?«
»Es ist anzunehmen.«
»Und wo werden sie dich hinschicken?«
»Ja, wenn man das schon wüßte.«
Georg sah vor sich hin. So nahe also war der Abschied! Doch warum berührte ihn das plötzlich so sehr?… Er selbst war ja entschlossen fortzugehen, und erst neulich hatte er mit dem Bruder von seinen Absichten fürs nächste Jahr geredet. Glaubte der noch immer nicht an ihren Ernst? Wenn man sich doch wieder einmal mit ihm aussprechen könnte, brüderlich, herzlich wie an jenem Abend nach des Vaters Begräbnis. Wahrhaftig, nur wenn das Leben ihnen düster sich enthüllte, fanden sie ganz zueinander. Sonst blieb immer diese seltsame Befangenheit zwischen ihnen beiden. Das konnte offenbar nicht anders werden. Man mußte sich eben bescheiden, miteinander plaudern, in der Art von guten Bekannten. Und wie resigniert fragte Georg weiter:»Was hast du denn am Abend gemacht?«
»Ich habe mit Guido soupiert und einer interessanten jungen Dame.«
»So?«
»Er ist nämlich wieder in zarten Banden.«
»Wer ist's denn?«
»Konservatorium, Jüdin, Geige. Aber sie hat sie nicht mitgehabt. Nicht besonders hübsch, aber g'scheit. Sie bildet ihn, und er achtet sie. Er will, sie soll sich taufen lassen. Ein komisches Verhältnis, sag ich dir. Du hättest dich ganz gut unterhalten.«
Georg hatte seinen Blick auf den Degen gerichtet, den Felician noch immer in der Hand hielt.»Hättest du Lust, noch ein bißchen zu manschettieren?«fragte er.
»Warum nicht?«erwiderte Felician und holte ein zweites Florett aus seinem Zimmer. Indes hatte Georg den großen Tisch aus der Mitte an die Wand gerückt.
»Seit dem Mai hab ich keines in der Hand gehabt«, sagte er, indem er den Degen ergriff. Sie legten die Röcke ab und kreuzten die Klingen. In der nächsten Sekunde war Georg tuschiert.
»Nur weiter!«rief Georg und empfand es wie ein Glück, daß er in verwegener Stellung, die blitzende, schlanke Waffe in der Hand, dem Bruder gegenüber stehen durfte.
Felician traf ihn, so oft es ihm beliebte, ohne nur ein einziges Mal selbst berührt zu werden. Dann ließ er den Degen sinken und sagte:»Du bist heut zu müd, es hat keinen Sinn. Aber du solltest wieder fleißiger in den Klub kommen. Ich versichre dich, es ist schad, bei deinen Anlagen.«
Georg freute sich des brüderlichen Lobs. Er legte den Degen auf den Tisch, atmete tief und ging zu dem offenen, breiten Mittelfenster.»Wundervolle Luft!«sagte er. Aus dem Park schimmerte eine einsame Laterne, es war vollkommene Stille.
Felician trat zu Georg hin, und während dieser sich mit beiden Händen auf die Brüstung stützte, blieb der ältere Bruder aufgerichtet stehen und ließ einen seiner ruhig-hochmütigen Blicke über Straße, Park und Stadt schweifen. Sie schwiegen beide lang. Und sie wußten, daß jeder an dasselbe dachte: an eine Mainacht heuer im Frühjahr, in der sie zusammen durch den Park nach Hause gegangen waren, und der Vater sie von demselben Fenster aus, an dem sie jetzt standen, mit stummem Kopfnicken begrüßt hatte. Und beide durchschauerte es ein wenig bei dem Gedanken, daß sie heute den ganzen Tag so lebensfroh hingebracht hatten, ohne sich mit Schmerzen des geliebten Mannes zu erinnern, der nun unter der Erde lag.
»Also gute Nacht«, sagte Felician, weicher als sonst und reichte Georg die Hand. Er drückte sie wortlos, und jeder ging in sein Zimmer.
Georg schaltete die Schreibtischlampe ein, nahm Notenblätter hervor und begann zu schreiben. Es war nicht das Scherzo, das ihm eingefallen war, als er vor drei Stunden mit den andern unter schwarzen Wipfeln durch die Nacht gesaust war; und auch nicht die melancholische Volksweise aus dem Restaurant; sondern ein ganz neues Motiv, das wie aus geheimen Tiefen langsam und unaufhaltsam emporgetaucht kam. Es war Georg zu Mute, als müßte er nur ein Unbegreifliches gewähren lassen. Er schrieb die Melodie nieder, die er sich von einer Altstimme gesungen oder auch auf der Viola gespielt dachte; und eine seltsame Begleitung tönte ihm mit, von der er wußte, daß sie ihm nie aus dem Gedächtnis schwinden konnte.
Es war vier Uhr morgens, als er zu Bette ging; beruhigt wie einer, dem niemals im Leben etwas Übles begegnen kann, und für den weder Einsamkeit, noch Armut, noch Tod irgendwelche Schrecken haben.
Zweites Kapitel
Im erhöhten Erker auf dem grünsamtenen Sofa saß Frau Ehrenberg mit ihrer Stickerei; Else, ihr gegenüber, las in einem Buch. Aus dem tiefern und dunklern Teil des Zimmers, hinter dem Klavier hervor, leuchtete das weiße Haupt der marmornen Isis, und durch die offene Tür floß aus dem benachbarten Zimmer ein heller Streif über den grauen Teppich. Else sah von ihrem Buche auf, durchs Fenster zu den hohen Wipfeln des Schwarzenbergparkes, die sich im Herbstwind regten, und sagte beiläufig:»Man könnt' vielleicht dem Georg Wergenthin telephonieren, ob er heut Abend kommt.«
Frau Ehrenberg ließ ihre Stickerei in den Schoß sinken.»Ich weiß nicht«, sagte sie.»Du erinnerst dich, was für einen wirklich charmanten Kondolenzbrief ich ihm geschrieben und wie dringend ich ihn in den Auhof eingeladen hab. Er ist nicht gekommen, und seine Antwort war auffallend kühl. Ich würde ihm nicht telephonieren.«
»Man kann ihn nicht behandeln wie die andern«, erwiderte Else.»Er gehört zu den Leuten, die man gelegentlich daran erinnern muß, daß man auf der Welt ist. Wenn man ihn erinnert hat, dann freut er sich schon darüber.«
Frau Ehrenberg stickte weiter.»Es wird ja doch nichts werden«, sagte sie ruhig.
»Es soll auch nichts werden«, entgegnete Else,»weißt du denn das noch immer nicht, Mama? Er ist mein guter Freund, nichts weiter und auch das nur mit Unterbrechungen. Oder glaubst du wirklich, daß ich in ihn verliebt bin, Mama? Ja als kleines Mädel war ich's, in Nizza, wie mir miteinander Tennis gespielt haben, aber das ist lang vorbei.«
»Na, und in Florenz?«
»In Florenz war ich's eher in Felician.«
»Und jetzt?«fragte Frau Ehrenberg langsam.
»Jetzt…? Du denkst wahrscheinlich an Heinrich Bermann… Also du irrst dich, Mama.«
»Es wäre mir lieb, wenn ich mich irrte. Aber heuer im Sommer hatte ich wirklich ganz den Eindruck, als ob…«
»Ich sag dir ja schon«, unterbrach Else sie ein wenig ungeduldig.»Es ist nichts, und es war nichts. Ein einziges Mal, an dem schwülen Nachmittag, wie wir Kahn gefahren sind du hast uns ja vom Balkon aus gesehen, sogar mit dem Operngucker da ist es ein bißchen gefährlich geworden. Aber wenn wir uns auch einmal um den Hals gefallen wären, was übrigens nie vorgekommen ist, es hätte doch nichts zu bedeuten gehabt. Es war halt so eine Sommersache.«
»Und er soll ja auch in einem sehr ernsten Verhältnis stecken«, sagte Frau Ehrenberg.
»Du meinst… mit dieser Schauspielerin, Mama?«
Frau Ehrenberg sah auf.»Hat er dir was von ihr erzählt?«
»Erzählt…? So direkt nicht. Aber wenn wir miteinander spazieren gegangen sind, im Park, oder abends am See, da hat er beinahe nur von ihr gesprochen. Natürlich, ohne ihren Namen zu nennen… Und je besser ich ihm gefallen hab, die Männer sind ja ein so komisches Volk, um so eifersüchtiger war er immer auf die andre… Übrigens wenn es nur das wäre! Welcher junge Mann steckt nicht in einem ernsten Verhältnis? Glaubst du vielleicht, Mama, der Georg Wergenthin nicht?«
»In einem ernsten?… Nein. Dem wird das nie passieren. Dazu ist er zu kühl, zu überlegen… zu temperamentlos.«
»Gerade darum«, erklärte Else menschenkennerisch.»Er wird in irgend was hineingleiten, und es wird über ihm zusammenschlagen, ohne daß er nur was davon bemerkt hat. Und eines schönen Tages wird er verheiratet sein… aus lauter Indolenz… mit irgendeiner Person, die ihm wahrscheinlich ganz gleichgültig sein wird.«
»Du mußt einen bestimmten Verdacht haben«, sagte Frau Ehrenberg.
»Den hab ich auch.«
»Marianne?«
»Marianne! Aber das ist ja längst aus, Mama. Und besonders ernst war das doch nie.«
»Also wer denn soll es sein?«
»Na was glaubst du, Mama?«
»Ich hab keine Ahnung.«
»Anna ist es«, sagte Else kurz.
»Welche Anna?«
»Anna Rosner, selbstverständlich.«
»Aber!«
»Du kannst lang ›aber‹ sagen es ist doch so.«
»Else, du glaubst doch nicht im Ernst, daß Anna, die eine so zurückhaltende Natur ist, sich so weit vergessen könnte…!«
»So weit vergessen…! Nein Mama, du hast manchmal noch Ausdrücke! übrigens find ich, dazu muß man gar nicht so vergeßlich sein.«
Frau Ehrenberg lächelte, nicht ohne einen gewissen Stolz.
Die Klingel draußen ertönte.»Am Ende ist er's doch«, sagte Else.
»Es könnte auch Demeter Stanzides sein«, bemerkte Frau Ehrenberg.
»Stanzides sollt' uns einmal den Prinzen mitbringen«, meinte Else beiläufig.
»Glaubst du, daß das ginge?«fragte Frau Ehrenberg und ließ die Stickerei in den Schoß sinken.
»Warum sollt's denn nicht gehen?«sagte Else,»sie sind ja so intim.«
Die Türe tat sich auf, doch keiner von den Erwarteten, sondern Edmund Nürnberger trat ein. Er war wie stets mit der größten Sorgfalt, wenn auch nicht nach der letzten Mode gekleidet. Sein Gehrock war etwas zu kurz, und in der bauschigen, dunkeln Atlaskrawatte steckte eine Smaragdnadel. An der Türe schon verbeugte er sich, nicht ohne zugleich in seinen Mienen einen gewissen Spott über die eigene Höflichkeit auszudrücken.»Bin ich der erste?«fragte er.»Noch niemand da? Weder ein Hofrat noch ein Graf noch ein Dichter noch eine dämonische Frau?«
»Nur eine, die es leider nie gewesen ist«, erwiderte Frau Ehrenberg, während sie ihm die Hand reichte,»und eine… die es vielleicht einmal werden wird.«
»O, ich bin überzeugt«, sagte Nürnberger,»daß Fräulein Else auch das treffen wird, wenn sie sichs nur ernstlich vornimmt.«Und er strich sich mit der linken Hand langsam über das schwarze, glatte, etwas glänzende Haar.
Frau Ehrenberg sprach ihr Bedauern aus, daß man ihn vergeblich auf dem Auhof erwartet hatte. Ob er wirklich den ganzen Sommer in Wien gewesen sei?
»Warum wundern Sie sich darüber, gnädige Frau? Ob ich in einer Gebirgslandschaft auf- und abspaziere, oder am Meeresstrand, oder in meinen vier Wänden, das ist doch im Grunde ziemlich gleichgültig.«
»Sie müssen sich aber recht einsam gefühlt haben«, sagte Frau Ehrenberg.
»Das Alleinsein kommt einem allerdings etwas deutlicher zu Bewußtsein, wenn sich niemand in der Nähe befindet, der das Bedürfnis markiert, mit einem reden zu wollen… Aber sprechen wir doch lieber von interessanteren und hoffnungsvollern Menschen, als ich es bin. Wie befinden sich die zahlreichen Freunde Ihres so beliebten Hauses?«
»Freunde!«wiederholte Else,»da müßte man doch erst wissen, wen Sie darunter verstehen.«
»Nun, alle Leute, die Ihnen aus irgendeinem Anlaß Angenehmes sagen und denen Sie es glauben.«
Die Schlafzimmertür tat sich auf, Herr Ehrenberg erschien und begrüßte Nürnberger.
»Hast du schon fertig gepackt?«fragte Else.
»Fix und fertig«, antwortete Ehrenberg, der einen viel zu weiten grauen Anzug anhatte und eine große Zigarre mit den Zähnen festhielt. Erklärend wandte er sich an Nürnberger.»Wie Sie mich da sehen, fahr ich heute nach Korfu… vorläufig. Die Saison fangt an, und vor die Jours im Haus Ehrenberg is mir mieß.«
»Es verlangt ja niemand«, erwiderte Frau Ehrenberg mild,»daß du sie mit deiner Gegenwart beehrst.«
»Gut gibt sie das«, sagte Ehrenberg und dampfte.»Auf deine Jours möcht' ich natürlich verzichten. Aber wenn ich grad an einem Donnerstag ruhig zu Haus nachtmahlen möcht, und es sitzt in der einen Ecke ein Attaché, in der andern ein Husar, und dorten spielt einer seine eigenen Kompositionen zuguten vor, und auf'm Divan hat einer Esprit, und am Fenster verabredet die Frau Oberberger ein Rendezvous, mit wem sich's trefft… so macht mich das nervös. Einmal vertragt mans, ein anderes Mal nicht.«
»Gedenken Sie den ganzen Winter fortzubleiben?«fragte Nürnberger.
»Es wär' möglich. Ich hab nämlich die Absicht weiter zu fahren, nach Ägypten, nach Syrien, wahrscheinlich auch nach Palästina. Ja, vielleicht ist es nur, weil man älter wird, vielleicht weil man soviel vom Zionismus liest und dergleichen, aber ich kann mir nicht helfen, ich möcht Jerusalem gesehen haben, eh ich sterbe.«
Frau Ehrenberg zuckte die Achseln.
»Das sind Sachen«, sagte Ehrenberg,»die meine Frau nicht versteht, und meine Kinder noch weniger. Was hast du davon, Else, du auch nicht. Aber wenn man so liest, was in der Welt vorgeht, man möcht selber manchmal glauben, es gibt für uns keinen andern Ausweg.«
»Für uns?«wiederholte Nürnberger.»Ich habe bisher nicht die Beobachtung gemacht, daß Ihnen der Antisemitismus auffallend geschadet hätte.«
»Sie meinen, weil ich ein reicher Mann geworden bin? Wenn ich Ihnen sagen möcht, ich mach mir nichts aus dem Geld, würden Sie mir natürlich nicht glauben, und Sie hätten Recht. Aber wie Sie mich da sehen, ich schwör Ihnen, die Hälfte von meinem Vermögen gäb ich her, wenn ich die ärgsten von unsern Feinden am Galgen säh.«
»Ich fürchte nur«, bemerkte Nürnberger,»Sie würden die Unrichtigen hängen lassen.«
»Die Gefahr ist nicht groß«, erwiderte Ehrenberg,»greifen Sie daneben, erwischen Sie auch einen.«
»Ich bemerke nicht zum erstenmal, lieber Herr Ehrenberg, daß Sie dieser Frage nicht mit der wünschenswerten Objektivität gegenüberstehen.«
Ehrenberg zerbiß plötzlich seine Zigarre und legte sie mit wutzitternden Fingern auf die Aschenschale.»Wenn mir einer damit kommt… und gar… entschuldigen Sie… oder sind Sie vielleicht getauft…? Man kann ja heutzutag nicht wissen.«
»Ich bin nicht getauft«, erwiderte Nürnberger ruhig.»Aber allerdings bin ich auch nicht Jude. Ich bin längst konfessionslos geworden; aus dem einfachen Grunde, weil ich mich nie als Jude gefühlt habe.«
»Wenn man Ihnen einmal den Zylinder einschlage auf der Ringstraße, weil Sie, mit Verlaub, eine etwas jüdische Nase haben, werden Sie sich schon als Jude getroffen fühlen, verlassen Sie sich darauf.«
»Aber Papa, was regst du dich denn so auf«, sagte Else und strich ihm über den kahlen, rötlich glänzenden Schädel.
Der alte Ehrenberg nahm ihre Hand, streichelte sie und fragte scheinbar ganz unvermittelt:»Werd ich übrigens noch das Vergnügen haben, meinen Herrn Sohn zu sehen, bevor ich abreise?«
Frau Ehrenberg antwortete:»Oskar kommt jedenfalls bald nach Hause.«
»Es wird Sie sicher freuen zu erfahren«, wandte sich Ehrenberg an Nürnberger,»daß auch mein Sohn Oskar ein Antisemit ist.«
Frau Ehrenberg seufzte leise.»Es ist eine fixe Idee von ihm«, sagte sie zu Nürnberger.»Überall sieht er Antisemiten, selbst in der eigenen Familie.«
»Das ist die neueste Nationalkrankheit der Juden«, sagte Nürnberger.»Mir selbst ist es bisher erst gelungen, einen einzigen echten Antisemiten kennen zu lernen. Ich kann Ihnen leider nicht verhehlen, lieber Herr Ehrenberg, daß der ein bekannter Zionistenführer war.«
Ehrenberg hatte nur eine vielsagende Handbewegung.
Demeter Stanzides und Willy Eißler traten ein und verbreiteten sofort lebhaften Glanz um sich. Leicht und prächtig, eher wie ein Kostüm, als wie ein militärisches Kleid trug Demeter seine Uniform; Willy, in Smoking, stand lang, blaß und übernächtig da, hatte sofort die Führung des Gesprächs in der Hand und seine Stimme, angenehm heiser, schwirrte befehlshaberisch und liebenswürdig zugleich durch die Luft. Er erzählte von den Vorbereitungen zu einer Aristokratenvorstellung, der er, wie schon im vorigen Jahr, als Berater, Regisseur und Mitwirkender beigezogen war, schilderte eine Sitzung der jungen Herren, in der es, wenn man ihm glauben durfte, zugegangen war wie in einer Versammlung von Schwachsinnigen, und gab ein komisches Gespräch zwischen zwei Komtessen zum besten, deren Redeweise er köstlich zu imitieren wußte. Ehrenberg war durch Willy Eißler immer sehr amüsiert. Die dunkle Empfindung, daß dieser ungarische Jude die ganze, ihm persönlich so verhaßte, Feudalbande in irgend einer Weise überlistete und zum Narren hielt, erfüllte ihn mit Hochachtung für den jungen Mann.
Else saß am kleinen Tisch in der Ecke mit Demeter und ließ sich über die Isle of Wight berichten.
»Sie waren mit Ihrem Freund dort?«fragte sie,»nicht wahr, mit dem Prinzen Karl Friedrich.«
»Mein Freund der Prinz?… das stimmt nicht ganz, Fräulein Else. Der Prinz hat keinen Freund, und ich hab keinen. Wir sind beide nicht von der Art.«
»Er muß ein interessanter Mensch sein, nach allem, was man hört.«
»Interessant, weiß ich nicht einmal. Jedenfalls hat er über mancherlei nachgedacht, worüber seinesgleichen sich sonst nicht viel Gedanken zu machen pflegen. Vielleicht hätte er auch allerlei leisten können, wenn man ihn hätte gewähren lassen. Na, wer weiß, es ist vielleicht besser für ihn, daß sie ihn kurz gehalten haben, für ihn und am End auch fürs Land. Einer allein kann ja doch nichts machen. Nirgends und nie. Da ist's schon am besten, man laßts gehen und zieht sich zurück, wie er's getan hat.«
Else sah ihn etwas befremdet an.»Sie sind ja heute so philosophisch, was ist denn das? Mir scheint, der Willy Eißler hat Sie verdorben.«
»Der Willy mich?«
»Ja wissen Sie, Sie sollten nicht mit so gescheiten Leuten verkehren.«
»Warum denn nicht?«
»Sie sollten einfach jung sein, leuchten, leben, und dann, wenns halt nicht weiter geht tun was Ihnen beliebt… aber ohne über sich und die Welt nachzudenken.«
»Das hätten Sie mir früher sagen müssen, Fräulein Else. Wenn man einmal angefangen hat, gescheit zu werden…«
Else schüttelte den Kopf.»Aber bei Ihnen wäre es vielleicht zu vermeiden gewesen«, sagte sie ganz ernsthaft. Und dann mußten beide lachen.
Die Flammen des Lusters glühten auf. Georg von Wergenthin und Heinrich Bermann waren eingetreten. Durch ein Lächeln Elses eingeladen, nahm Georg an ihrer Seite Platz.
»Ich habs gewußt, daß Sie kommen werden«, sagte sie unaufrichtig, aber herzlich und drückte seine Hand. Daß er ihr wieder gegenübersaß nach so langer Zeit, daß sie sein anmutig stolzes Gesicht wiedersehen, seine etwas leise, aber warme Stimme hören durfte, freute sie mehr, als sie geahnt hatte.
Frau Wyner erschien; klein, hochrot, lustig und verlegen. Ihre Tochter Sissy mit ihr. Im Hin und Her der Begrüßung lösten sich die Gruppen.
»Nun, haben Sie mir schon das Lied komponiert?«fragte Sissy Georg mit lachenden Augen und lachenden Lippen, spielte mit einem ihrer Handschuhe und bewegte sich in ihrem dunkelgrünen schillernden Kleid wie eine Schlange.
»Ein Lied?«fragte Georg. Er erinnerte sich wirklich nicht.
»Oder auch einen Walzer oder so was. Aber daß Sie mir etwas widmen werden, haben Sie mir versprochen.«Während sie sprach, wanderten ihre Blicke umher. Sie glühten in die Augen Willys, schmeichelten sich an Demeter vorbei, stellten an Heinrich Bermann eine rätselhafte Frage. Es war, wie wenn Irrlichter durch den Salon tanzten.
Frau Wyner stand plötzlich neben ihrer Tochter, tief errötend:»Sissy ist ja so dumm… was glaubst du denn, Sissy, der Baron Georg hat heuer wichtigeres zu tun gehabt, als für dich zu komponieren.«
»O gewiß nicht«, sagte Georg höflich.
»Sie haben Ihren Vater begraben, das ist keine Kleinigkeit.«
Georg sah vor sich hin. Frau Wyner aber sprach unbeirrt weiter:»Ihr Vater war noch nicht alt, nicht wahr? Und ein so schöner Mann… ist es wahr, daß er Chemiker gewesen ist?«
»Nein«, erwiderte Georg gefaßt,»er war Präsident der botanischen Gesellschaft.«
Heinrich, einen Arm auf dem geschlossenen Klavierdeckel, sprach mit Else.
»Sie waren also doch in Deutschland?«fragte sie.
»Ja«, erwiderte Heinrich,»es ist schon ziemlich lange her, vier, fünf Wochen.«
»Und wann fahren Sie wieder hin?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht nie.«
»Ach, das glauben Sie selbst nicht. Was arbeiten Sie?«setzte sie rasch hinzu.
»Allerlei«, entgegnete er.»Ich bin in einer ziemlich unruhigen Zeit. Ich entwerfe viel, aber ich mache nichts fertig. Das Vollenden interessiert mich über haupt selten. Offenbar bin ich innerlich zu rasch fertig mit den Dingen.«
»Und den Menschen«, fügte Else bei.
»Mag sein. Es ist nur das Unglück, daß das Gefühl zuweilen an Menschen weiter hängen bleibt, während der Verstand schon längst nichts mehr mit ihnen zu tun hat. Ein Dichter wenn Sie mir das Wort gestatten müßte sich von jedem zurückziehen, der für ihn kein Rätsel mehr hat… also besonders von jedem, den er liebt.«
»Es heißt doch«, wandte Else ein,»daß wir gerade diejenigen am wenigsten kennen, die wir lieben.«
»Das behauptet Nürnberger, aber es stimmt nicht ganz. Wäre es wirklich so, liebe Else, dann wäre das Leben wahrscheinlich schöner, als es ist. Nein, diejenigen, die wir lieben, kennen wir sogar besser als wir andere kennen, nur kennen wir sie mit Scham, mit Erbitterung und mit der Furcht, daß auch andre sie ebensogut kennen als wir. Lieben heißt: Angst davor haben, daß andern die Fehler offenbar werden, die wir an dem geliebten Wesen entdeckt haben. Lieben heißt: in die Zukunft schauen können und diese Gabe verfluchen… lieben heißt: jemanden so kennen, daß man daran zugrunde geht.«
Else lehnte am Klavier, in ihrer damenhaft-kindlichen Art, neugierig gelassen, und hörte ihm zu. Wie gut gefiel er ihr in solchen Augenblicken. Sie hätte ihm wieder tröstend übers Haar streichen wollen wie damals auf dem See, als er von der Liebe zu jener andern wie zerrissen war. Aber wenn er sich dann plötzlich zurückzog, kühl, trocken und wie ausgelöscht erschien, da fühlte sie, daß sie mit ihm nie leben könnte, daß sie ihm nach ein paar Wochen davonlaufen müßte… mit einem spanischen Offizier oder einem Violinvirtuosen.
»Es ist gut«, sagte sie, etwas gönnerhaft,»daß Sie mit Georg Wergenthin verkehren. Er wird günstig auf Sie wirken. Er ist ruhiger als Sie. Ich glaube ja nicht, daß er so begabt und gewiß nicht, daß er so klug ist wie Sie…«
»Was wissen Sie von seiner Begabung«, unterbrach sie Heinrich beinahe grob.
Georg trat hinzu und fragte Else, ob man heute nicht das Vergnügen haben werde, ein Lied von ihr zu hören. Sie hatte keine Lust. Übrigens studiere sie hauptsächlich Opernpartien in der letzten Zeit. Das interessiere sie mehr. Sie sei doch eigentlich keine lyrische Natur. Georg fragte sie zum Scherz, ob sie nicht vielleicht die geheime Absicht habe zur Bühne zu gehen.
»Mit dem bissel Stimme!«sagte Else.
Nürnberger stand neben ihnen.»Das wäre doch kein Hindernis«, bemerkte er.»Ich bin sogar überzeugt, daß sich sehr bald ein moderner Kritiker fände, der Sie gerade deswegen als bedeutende Sängerin ausriefe, Fräulein Else, weil Sie keine Stimme besitzen, der aber dafür irgend eine andere Gabe, zum Beispiel die der Charakteristik bei Ihnen entdeckte. So wie es heutzutage namhafte Maler gibt, die keinen Farbensinn haben, aber Geist; und Dichter von Ruf, denen zwar nicht das geringste einfällt, denen es aber gelingt zu jedem Hauptwort das falscheste Epitheton zu finden.«
Else merkte, daß die Redeweise Nürnbergers Georg nervös machte und wandte sich an diesen.»Ich wollte Ihnen ja etwas zeigen«, sagte sie und machte ein paar Schritte zu der Notenetagere. Georg folgte ihr.
»Hier die Sammlung alt-italienischer Volkslieder. Ich möchte, daß Sie mir die wertvollsten bezeichnen. Ich selber verstehe doch nicht genug davon.«
»Ich begreife gar nicht«, sagte Georg leise,»daß Sie Menschen wie diesen Nürnberger in Ihrer Nähe ertragen. Er verbreitet einen wahren Dunstkreis von Mißtrauen und Übelwollen um sich.«
»Das hab ich Ihnen schon öfters gesagt, Georg, ein Menschenkenner sind Sie nicht. Was wissen Sie denn überhaupt von ihm? Er ist anders, als Sie glauben. Fragen Sie nur einmal Ihren Freund Heinrich Bermann.«
»O ich weiß ja, daß der auch für ihn schwärmt«, erwiderte Georg.
»Ihr sprecht von Nürnberger?«fragte Frau Ehrenberg, die eben dazutrat.
»Der Georg kann ihn nicht leiden«, sagte Else in ihrer beiläufigen Art.
»Da tun Sie aber sehr Unrecht daran; haben Sie überhaupt je was von ihm gelesen?«
Georg schüttelte den Kopf.
»Nicht einmal seinen Roman, der vor fünfzehn oder sechzehn Jahren so großes Aufsehen gemacht hat? Das ist ja beinah eine Schand! Neulich haben wir ihn dem Hofrat Wilt geliehen. Ich sag Ihnen, der war paff, wie in dem Buch eigentlich schon das ganze heutige Österreich vorausgeahnt ist.«
»So, so«, sagte Georg ohne Überzeugung.
»Sie können sich gar nicht vorstellen«, fuhr Frau Ehrenberg fort,»mit welchem Jubel Nürnberger damals begrüßt worden ist. Man könnte sagen, alle Tore sind vor ihm aufgesprungen.«
»Vielleicht war ihm das genug«, bemerkte Else nachdenklich altklug.
Heinrich stand am Klavier im Gespräch mit Nürnberger und bemühte sich, wie er es oftmals tat, ihn zu einer neuen Arbeit oder zu einer Herausgabe älterer Schriften zu bestimmen.
Nürnberger wehrte ab. Der Gedanke, seinen Namen wieder in die Öffentlichkeit gezerrt zu sehen, im literarischen Wirbel der Zeit mitzutreiben, der ihm widerlich und albern zugleich erschien, erfüllte ihn geradezu mit Schaudern. Er hatte keine Lust, da mit zu konkurrieren. Wozu? Cliquenwirtschaft, die sich kein Mäntelchen mehr umnahm, war überall am Werke. Gab es noch ein tüchtig, ehrlich strebendes Talent, das nicht jeden Augenblick gefaßt sein mußte, in den Kot gezogen zu werden; war noch ein Flachkopf zu finden, der sich nicht ausweisen konnte, in irgend einem Blättchen als Genie erklärt worden zu sein? Hatte Ruhm in diesen Tagen noch das geringste mit Ehre zu tun? Und übersehen, vergessen werden, war das auch nur ein Achselzucken des Bedauerns wert? Und wer konnte am Ende wissen, welche Urteile sich in der Zukunft als die richtigen erweisen würden? Waren nicht die Tröpfe wirklich die Genies und die Genies die Tröpfe? Es war lächerlich, sich mit dem Einsatz seiner Ruhe ja seiner Selbstachtung in ein Spiel einzulassen, in dem auch der höchstmögliche Gewinn keine Befriedigung versprach.
»Gar keine?«fragte Heinrich.»Ich will Ihnen ja allerlei preisgeben, Ruhm, Reichtum, Wirkung in die Weite; aber daß man, weil alle diese Güter zweifelhaft sind, auch auf etwas so Unzweifelhaftes verzichten soll, wie es die Augenblicke des innern Kraftgefühls sind…«
»Inneres Kraftgefühl! Warum sagen Sie nicht gleich Seligkeit des Schaffens?…«
»Gibts, Nürnberger!«
»Mag sein. Ich glaube mich sogar zu erinnern, vor sehr langer Zeit gelegentlich selbst irgend was derart empfunden zu haben… Nur ist mir, Sie wissen es ja, die Fähigkeit, mich selbst zu betrügen, im Lauf der Jahre völlig abhanden gekommen.«
»Das glauben Sie vielleicht nur«, erwiderte Heinrich.»Wer weiß, ob es nicht gerade diese Fähigkeit des Sichselbstbetrügens ist, die Sie im Laufe der Zeit am stärksten in sich ausgebildet haben!«
Nürnberger lachte.»Wissen Sie, wie mir zu Mute ist, wenn ich Sie so reden höre? Ungefähr wie einem Fechtmeister, der von seinem eigenen Schüler einen Stich ins Herz bekommt.«
»Und nicht einmal von seinem besten«, sagte Heinrich.
Plötzlich erschien in der Türe Herr Ehrenberg, zur Verwunderung seiner Frau, die ihn schon auf dem Wege zur Bahn vermutet hatte. Er führte eine junge Dame an der Hand, die einfach schwarz gekleidet war und das Haar nach einer verflossenen Mode auffallend hoch frisiert trug. Ihre Lippen waren voll und rot, die Augen in dem lebendig blassen Gesicht blickten klar und hart.
»Kommen Sie nur«, sagte Ehrenberg mit einiger Bosheit in den kleinen Augen und führte den Gast geradewegs zu Else, die eben mit Stanzides plauderte.»Hier bring ich dir einen Besuch.«
Else streckte ihr die Hand entgegen.»Das ist aber nett.«Sie stellte vor:»Herr Demeter Stanzides. Fräulein Therese Golowski.«
Therese nickte kurz und ließ eine Weile ihren Blick auf ihm ruhen, unbefangen, als betrachtete sie ein schönes Tier.
Dann wandte sie sich an Else:»Wenn ich gewußt hätte, daß Ihr so große Gesellschaft habt…«
»Wissen Sie, wie die ausschaut?«sagte Stanzides leise zu Georg,»wie eine russische Studentin, nicht wahr?«
Georg nickte.»Ungefähr. Ich kenn sie. Es ist eine Institutsfreundin von Fräulein Else, und jetzt, denken Sie sich, spielt sie eine führende Rolle bei den Sozialisten. Neulich ist sie sogar gesessen, wegen Majestätsbeleidigung, glaub ich.«
»Ja, mir scheint, ich hab so was gelesen«, erwiderte Demeter.»So eine Art von Geschöpf sollte man wirklich einmal näher kennen lernen. Hübsch ist sie. Ein Gesicht wie aus Elfenbein.«
»Und viel Energie liegt in den Zügen«, fügte Georg hinzu.»Ihr Bruder ist übrigens auch ein merkwürdiger Mensch. Klavierspieler und Mathematiker. Ich hab ihn neulich kennen gelernt. Und der Vater soll ein zugrund gegangener jüdischer Fellhändler sein.«
»Es ist schon eine sonderbare Rass'«, bemerkte Demeter.
Indessen war Frau Ehrenberg auf Therese zugekommen und hielt es für richtig, keinerlei Überraschung zu zeigen.»Nehmen Sie doch Platz, Therese«, sagte sie.»Wie gehts Ihnen denn immer? Seit Sie sich ins politische Leben begeben haben, kümmern Sie sich ja um Ihre früheren Bekannten gar nicht mehr.«
»Ja leider läßt mir mein Beruf wenig Zeit, Familienverkehr zu pflegen«, erwiderte Therese und schob ihr Kinn vor, was ihr Antlitz plötzlich männlich und beinah häßlich machte.
Frau Ehrenberg schwankte, ob sie etwas von der abgelaufenen Kerkerhaft Theresens erwähnen sollte oder nicht. Immerhin war zu bedenken, daß es kaum ein anderes Haus in Wien gab, wo Damen verkehrten, die kurz zuvor eingesperrt waren.
»Wie gehts denn deinem Bruder?«fragte Else.
»Er dient heuer«, antwortete Therese.»Du kannst dir ja ungefähr denken, wie's ihm da geht…«und sie warf einen ironischen Blick auf die Husarenuniform Demeters.
»Da kommt er wohl nicht viel zum Klavierspielen«, sagte Frau Ehrenberg.
»Ach er denkt gar nicht mehr daran, Pianist zu werden«, erwiderte Therese.»Er steckt ganz in der Politik.«Und sich lächelnd zu Demeter wendend fügte sie hinzu:»Sie werden ihn doch nicht verraten, Herr Oberleutnant.«
Stanzides lachte etwas verlegen.
»Was heißt das: Politik?«fragte Herr Ehrenberg.»Will er Minister werden?«
»In Österreich keineswegs«, erwiderte Therese.»Er ist nämlich Zionist.«
»Was!?«rief Ehrenberg aus, und sein Gesicht strahlte.
»Das ist allerdings ein Gebiet, auf dem wir uns nicht ganz verstehen«, setzte Therese hinzu.
»Liebe Therese…«, begann Ehrenberg.
»Du wirst den Zug versäumen«, unterbrach ihn seine Frau.
»Ich werd den Zug nicht versäumen, und morgen geht auch noch einer. Liebe Therese, ich sage nur: es soll jeder nach seiner Fasson selig werden. Aber in dem Fall ist Ihr Bruder der Gescheitere und nicht Sie. Entschuldigen Sie, ich bin vielleicht ein Laie in politischen Dingen, aber ich versichere Sie, Therese, es wird euch jüdischen Sozialdemokraten geradeso ergehen, wie es den jüdischen Liberalen und Deutschnationalen ergangen ist.«
»Inwiefern?«fragte Therese hochmütig.»Inwiefern wird es uns geradeso ergehen?«
»Inwiefern…? das werd ich Ihnen gleich sagen. Wer hat die liberale Bewegung in Österreich geschaffen?… Die Juden!… Von wem sind die Juden verraten und verlassen worden? Von den Liberalen. Wer hat die deutschnationale Bewegung in Österreich geschaffen? Die Juden. Von wem sind die Juden im Stich gelassen… was sag ich im Stich gelassen… bespuckt worden wie die Hund'?… von den Deutschen! Und geradeso wirds ihnen jetzt ergehen mit dem Sozialismus und dem Kommunismus. Wenn die Suppe erst aufgetragen ist, so jagen sie euch vom Tisch. Das war immer so und wird immer so sein.«
»Wir wollens abwarten«, erwiderte Therese ruhig.
Georg und Demeter blickten einander an, wie zwei Freunde, die gemeinsam auf eine Insel verschlagen worden sind. Oskar, der gerade während der Rede seines Vaters eingetreten war, hatte schmale Lippen und war sehr verlegen. Allen aber schien es eine Art Befreiung, als Ehrenberg plötzlich auf die Uhr sah und sich empfahl.
»Wir werden ja heut doch nicht mehr einig«, sagte er zu Therese.
Therese lächelte:»Kaum. Glückliche Reise und noch einmal im Namen…«
»Pst«, sagte Ehrenberg und verschwand.
»Wofür dankst du eigentlich dem Papa?«fragte Else sie leise.
»Für eine Spende, um die ich ihn unverschämterweise bitten kam. Aber es gibt sonst keinen reichen Mann in meinem Bekanntenkreis. Über den Zweck zu reden bin ich nicht berechtigt.«
Frau Ehrenberg trat zu Bermann und Nürnberger hin, die über den Klavierdeckel hinweg mit einander sprachen, und sagte leise:»Sie wissen doch, daß sie…«, sie wies mit den Augen auf Therese,»eben aus dem Gefängnis entlassen worden ist?«
»Ich habe davon gelesen«, erwiderte Heinrich…
Nürnberger kniff die Augen zusammen und warf einen Blick auf die Gruppe in der Ecke, wo die drei Mädchen mit Stanzides und Willy Eißler plauderten, und schüttelte den Kopf.»Was für eine Bosheit unterdrücken Sie?«fragte Frau Ehrenberg.
»Ich denke eben, wie leicht es sich hätte fügen können, daß Fräulein Else zwei Monate im Gefängnis hätte schmachten müssen, und daß Fräulein Therese in einem eleganten Salon als Tochter des Hauses Cercle hielte.«
»Leicht fügen…?«
»Herr Ehrenberg hat Glück gehabt, Herr Golowski Pech… das ist vielleicht der ganze Unterschied.«
»Na hören Sie, Nürnberger«, sagte Heinrich,»Sie werden das Individuelle doch nicht vollkommen aus der Welt leugnen wollen… Else und Therese sind doch ziemlich verschiedene Naturen.«
»Das denke ich auch«, bemerkte Frau Ehrenberg.
Nürnberger zuckte die Achseln.»Beide sind junge Mädchen, recht begabt, recht hübsch… alles übrige ist wie bei den meisten jungen Damen und wohl bei den meisten Menschen, mehr oder weniger angeflogen.«
Heinrich schüttelte lebhaft den Kopf.»Nein, nein«, sagte er,»so einfach ist das Leben doch nicht.«
»Es ist darum nicht einfacher, lieber Heinrich.«
Frau Ehrenbergs Blick war auf die Tür gerichtet und leuchtete. Felician war eben eingetreten. Mit nachtwandlerischer Sicherheit ging er auf die Hausfrau zu und küßte ihr die Hand.»Ich habe eben das Vergnügen gehabt, Herrn Ehrenberg auf der Stiege zu begegnen… Er fährt nach Corfu, wie er mir sagt. Dort muß es jetzt wunderschön sein.«
»Sie kennen Corfu?«
»Ja, gnädige Frau, eine Kindheitserinnerung.«Er begrüßte Nürnberger und Bermann, und sie redeten alle über den Süden, nach dem Bermann sich sehnte und an den Nürnberger nicht glaubte.
Georg drückte seinem Bruder zur Begrüßung und zugleich zum Abschied die Hand. Wie er, unauffällig durch die offene Tür des Speisezimmers verschwindend, sich noch einmal umsah, bemerkte er Marianne, die in der entferntesten Ecke des Salons saß und ihm mit dem Lorgnon spöttisch nachblickte. Es war immer die rätselhafte Gabe dieser Frau gewesen, plötzlich da zu sein, ohne daß man wußte, wo sie herkam. Noch auf der Stiege trat ihm eine verschleierte Dame in den Weg.»Eilen Sie doch nicht so, sie kann schon noch einen Moment warten«, sagte sie.»Man darf die Frauen überhaupt nicht so verwöhnen… Ob Sie's auch so eilig hätten, wenn Sie zu einem Rendezvous mit mir gingen…? Aber davon wollen ja Sie nichts wissen. Wahrscheinlich, weil Sie Angst haben, daß Sie mein Mann niederschießt, wenn er aus Stockholm zurückkommt, das heißt, heute ist er wohl schon in Kopenhagen. Aber er setzt vollkommenes Vertrauen in mich. Mit Recht übrigens. Denn ich kann Ihnen schwören, weiter als bis zu einem Kuß auf die Hand… nein, um nicht zu lügen, auf diesen Hals, hat es noch niemand gebracht. Sie glauben gewiß auch, daß ich mit dem Stanzides ein Verhältnis gehabt habe? Nein, der wäre nichts für mich! Schöne Männer sind mir überhaupt ein Graus. Auch an Ihrem Bruder Felician kann ich nichts finden…«
Es war nicht abzusehen, wann die verschleierte Dame zu reden aufhören würde, denn es war Frau Oberberger. Bei andern Frauen hätte das gleiche Benehmen ein gewisses Entgegenkommen bedeutet, nicht so bei ihr, der man, so zweifelhaft ihre ganze Art erscheinen mochte, noch nie einen Liebhaber hatte nachsagen können. Sie lebte in einer sonderbaren, aber anscheinend glücklichen, kinderlosen Ehe. Ihr schöner und glänzender Gemahl, Geologe von Beruf, hatte in früherer Zeit Entdeckungsreisen unternommen, wobei er, wie Hofrat Wilt behauptete, nicht so sehr auf die Unerforschtheit der betreffenden Landstriche als auf gute Fahrgelegenheiten und einwandfreie Küche Wert gelegt haben sollte. Seit einigen Jahren aber begab er sich nur mehr auf Reisen, um Vorträge zu halten und Frauen zu erobern. Wenn er wieder daheim war, lebte er mit seiner Gattin in bester Kameradschaft. Schon manchmal, aber immer flüchtig, hatte Georg die Möglichkeit eines Verhältnisses mit Frau Oberberger erwogen. Er war sogar einer von jenen, die ihren Hals geküßt hatten, woran sie sich wahrscheinlich selbst nicht mehr erinnerte. Und als sie jetzt den Schleier zurückschlug, ließ Georg wieder einmal den Reiz dieses nicht mehr ganz jugendlichen, aber anmutig-bewegten Gesichts mit Vergnügen auf sich wirken. Er wollte ihr ins Wort fallen, sie aber sprach weiter:»Wissen Sie, daß Sie sehr blaß sind? Sie müssen ein nettes Leben führen. Was ist das übrigens für ein Weib, durch das Sie mir diesmal entrissen werden?«
Hofrat Wilt, unhörbar wie meistens, stand plötzlich neben ihnen. Beiläufig, überlegen und galant warf er hin:»Küß die Hand schöne Frau, grüß Sie Gott Baron…«und wollte weiter.
Frau Oberberger aber fand es angemessen, ihm vorerst noch mitzuteilen, daß Baron Georg sich soeben zu einer Orgie begebe, wie das so seine Art sei, dann folgte sie dem Hofrat in den zweiten Stock, auf die Gefahr hin, wie sie bemerkte, daß man ihn, wenn er zugleich mit ihr bei Ehrenbergs erschiene, für ihren fünfundneunzigsten Liebhaber halten würde.
Es war sieben Uhr, als Georg sich endlich in einen Wagen setzen konnte, um nach Mariahilf zu fahren. Er fühlte sich von den zwei Stunden bei Ehrenbergs geradezu abgespannt, und mehr noch als sonst freute er sich auf das Zusammensein mit Anna, das ihm bevorstand. Seit jenem Vormittag in der Miniaturenausstellung hatten sie einander beinahe täglich gesehen; in Gärten, in Bildergalerien, bei ihr zu Hause. Meist unterhielten sie sich über die kleinen Begebenheiten ihres Daseins, oder plauderten von Büchern und Musik. Von vergangenen Zeiten sprachen sie nicht oft; und wenn es geschah, ohne Mißtrauen und Zweifel. Denn noch waren die Abenteuer, aus denen Georg kam, für Anna nicht vom beängstigenden Dufte des Geheimnisvollen umwoben; und daß sie selbst schon manche schwärmerische Neigung empfunden hatte, vernahm Georg aus ihren scherzenden Andeutungen heiter, unbesorgt, ja ohne weiter zu fragen. In einem menschenleeren Saal der Liechtensteingalerie hatte er sie vor acht Tagen zum erstenmal geküßt, und von diesem Augenblick an nannte Anna ihn du, als wäre eine fremdere Anrede ihr von nun an wie etwas Lügenhaftes erschienen.
Der Wagen hielt an einer Straßenecke. Georg stieg aus, zündete sich eine Zigarette an und ging auf und ab, dem Hause gegenüber, aus dem Anna kommen mußte.
Nach wenigen Minuten schon trat sie aus dem Tor. Er eilte über die Straße ihr entgegen, und beglückt küßte er ihr die Hand. Wie gewöhnlich, weil sie auf ihren Fahrten meist zu lesen pflegte, hatte sie ein Buch mit sich, in einem Einband von gepreßtem Leder.
»Es ist ja kühl, Anna«, sagte Georg, nahm ihr das Buch aus der Hand und half ihr in die Jacke, die sie über dem Arm getragen hatte.
»Ich habe mich nämlich ein bißchen verspätet«, sagte sie»und war sehr ungeduldig, dich zu sehen. Ja«, setzte sie lächelnd hinzu,»man hat auch seine Temperamentsausbrüche. Was sagst du denn zu meinem neuen Kostüm«, fragte sie, indem sie weiterspazierten.
»Steht dir sehr gut.«
»In meiner Lektion hat man gefunden, ich sähe aus wie eine Hofdame.«
»Wer hat das gefunden?«
»Frau Bittner selbst, und ihre beiden Töchter, die ich unterrichte.«
»Ich würde lieber sagen: wie eine Erzherzogin.«
Anna nickte befriedigt.
»Also jetzt erzähl mir Anna, was du seit gestern alles erlebt hast.«
Ernsthaft begann sie.»Um zwölf, nachdem ich mich am Haustor von dir getrennt, Mittagessen im Familienkreis. Nachmittag ein wenig geruht und an dich gedacht. Von vier bis halb sieben Schülerinnen bei mir, dann gelesen,»grüner Heinrich«und Abendblatt. Zu faul, um noch auf die Straße zu gehen, im Hause herumgetrenderlt. Nachtmahl. Die übliche häusliche Szene.«
»Bruder?«fragte Georg.
Sie antwortete mit einem»ja«, das weitere Fragen abschnitt.»Nach dem Nachtmahl ein bißchen musiziert… sogar zu singen versucht.«
»Warst du zufrieden?«
»Für mich reicht es ja immer aus«, sagte sie, und Georg glaubte eine leichte Traurigkeit im Klang ihrer Worte zu vernehmen.
Rasch berichtete sie weiter:»Um halb elf im Bett gelegen, gut geschlafen, um acht Uhr früh auf… man kann ja bei uns nicht länger liegen… Toilette gemacht bis halb zehn, bis elf im Haus herum…«
»… getrenderlt«, ergänzte Georg.
»Richtig. Dann zu Weils, den Buben unterrichtet.«
»Wie alt ist der eigentlich?«fragte Georg.
»Dreizehn«, erwiderte Anna mit einem komisch-bedenklichen Gesicht.
»Na das ist wirklich nicht so jung.«
»Gewiß nicht«, sagte Anna.»Aber erfahre zu deiner Beruhigung, daß er seine Tante Adele liebt, eine zarte Blondine von dreiunddreißig Jahren und vorläufig nicht daran denkt, ihr die Treue zu brechen… Also Fortsetzung der Chronik. Um halb zwei zu Hause angelangt, allein gegessen Gott sei Dank, Papa schon im Bureau, Mama in schlafendem Zustand. Von drei bis vier wieder geruht, noch mehr und noch bedeutender an dich gedacht, als gestern, dann Besorgungen in der Stadt, Handschuhe, Sicherheitsnadeln und etwas für Mama, und endlich mit der Tramway lesend nach Mariahilf herausgefahren zu den zwei Bittner Fratzen… So nun weißt du alles. Zufriedenstellend?«
»Abgesehen von dem dreizehnjährigen Jüngling.«
»Also ich gebe ja zu, daß das beunruhigend sein mag, aber jetzt wollen wir einmal hören, ob du mir nicht düsterere Geständnisse zu machen hast.«
Sie waren in einer schmalen, stillen Gasse, die Georg ganz fremd vorkam, und Anna nahm seinen Arm.
»Ich komme eben von Ehrenbergs«, begann er.
»Nun«, fragte Anna,»hat man dich sehr zu umstricken gesucht?«
»Das kann ich eben nicht sagen. Man schien sogar ein wenig froissiert, daß ich diesen Sommer gar nicht im Auhof war«, setzte er hinzu.
»Hat Klein-Elschen sich produziert?«fragte Anna weiter.
»Nein. Was sich nach meinem Fortgehen ereignet haben mag, das weiß ich natürlich nicht.«
»Jetzt wirds ja wohl nicht mehr der Mühe wert sein«, sagte Anna mit überquellendem Spott.
»Du irrst dich, Anna. Es sind Leute oben, für die zu singen es sich sehr verlohnte.«
»Wer denn?«
»Heinrich Bermann, Willy Eißler, Demeter Stanzides…«
»O, Stanzides!«rief Anna aus.»Jetzt tut es mir eigentlich leid, daß ich nicht auch oben war.«
»Mir scheint«, sagte Georg,»das ist nicht so spaßhaft gemeint als gesagt.«
»Gewiß nicht«, erwiderte Anna.»Ich finde diesen Demeter zum Totschießen schön.«
Georg schwieg ein paar Sekunden und plötzlich, erregter als es sonst seine Art war, fragte er:»Ist es am Ende er?…«
»Was für ein Er?«
»Der, den du… mehr geliebt hast als mich!«
Sie lächelte, drängte sich fester an ihn und erwiderte einfach, aber doch ein bißchen spöttisch:»Sollt ich wirklich jemanden lieber gehabt haben als dich?«
»Du hast es mir ja selber gestanden«, erwiderte Georg.
»Ich hab dir aber auch ›gestanden‹, daß ich mit der Zeit dich mehr lieben werde, als ich je einen andern geliebt habe, oder lieben könnte.«
»Weißt du das ganz bestimmt, Anna?«
»Ja, Georg, das weiß ich ganz bestimmt.«
Sie waren wieder in einer belebteren Straße, und unwillkürlich lösten sie die Arme. Sie blieben vor verschiedenen Auslagen stehen, entdeckten unter einem Haustor den Glaskasten eines Photographen und waren sehr belustigt von der mühselig-ungezwungenen Haltung, in der hier Jubelpaare, Kadettoffiziersstellvertreter, Köchinnen im Sonntagsstaat und für den Maskenball kostümierte Damen aufgenommen waren.
Georg, in leichterm Tone, fragte wieder:»Also war es Stanzides?«
»Aber was fällt dir denn ein. Ich hab in meinem Leben keine hundert Worte mit ihm gesprochen.«
Sie spazierten weiter.
»Also doch Leo Golowski?«fragte Georg.
Sie schüttelte den Kopf und lächelte.»Das war die Jugendliebe«, erwiderte sie,»das gilt überhaupt nicht. Übrigens möcht ich das 16jährige Mädel kennen, das sich auf dem Land nicht in einen schönen Jüngling verliebt hätte, der sich mit einem veritabeln Grafen schlägt und dann acht Tage mit dem Arm in der Schlinge herumspaziert.«
»Aber er hat es doch nicht deinetwegen getan, sondern sozusagen für die Ehre seiner Schwester.«
»Für Theresens Ehre? Wie kommst du auf die Idee?«
»Du hast mir doch erzählt, daß der junge Mensch Therese im Walde angesprochen hatte, während sie die ›Emilia Galotti‹ studierte.«
»Ja das ist schon wahr. Übrigens hat sie sich ganz gern ansprechen lassen. Dem Leo war es aber nur deswegen zuwider, weil der junge Graf zu einer Gesellschaft von jungen Leuten gehört hat, die sich wirklich ziemlich frech und halt ein bissel antisemitisch benommen haben. Und wie Therese einmal mit ihrem Bruder am See spazieren geht und der Graf kommt daher und redet Therese an wie eine gute Bekannte und murmelt nur so beiläufig für Leo seinen Namen, da hat Leo ein Buckerl gemacht und sich ihm mit den Worten vorgestellt: ›Leo Golowski, Jüd aus Krakau.‹ Was es weiter gegeben hat, weiß ich nicht genau. Es ist zu einem Wortwechsel gekommen, und am nächsten Tag war dann das Duell in Klagenfurt in der Kavalleriekaserne.«
»Da hab ich doch recht«, beharrte Georg spöttisch,»für die Ehre seiner Schwester hat er sich geschlagen.«
»Nein, sag ich dir. Ich bin ja dabei gewesen, wie er später einmal mit Therese über die Geschichte gesprochen und ihr gesagt hat: ›Von mir aus kannst du tun, was dir Spaß macht, kannst dir den Hof machen lassen, von wem du willst‹…«
»Nur ein Jud muß es halt sein…«, ergänzte Georg.
Anna schüttelte den Kopf.»So ist er wirklich nicht.«
»Ich weiß«, erwiderte Georg mild.»Wir sind ja sehr gute Freunde geworden in der letzten Zeit, dein Leo und ich. Gestern Abend erst sind wir wieder im Kaffeehaus zusammen gewesen, und er war wirklich sehr herablassend zu mir. Ich glaube, mir verzeiht er sogar meine Abstammung. Im übrigen hab ich dir noch gar nicht erzählt, daß auch Therese heute bei Ehrenbergs oben war.«Und er berichtete von dem Erscheinen des jungen Mädchens im Salon Ehrenberg und von dem Eindruck, den sie auf Demeter gemacht hatte.
Anna lächelte vergnügt dazu.
Später, während sie wieder in einer stilleren Straße Arm in Arm spazierten, begann Georg von neuem:»Jetzt weiß ich aber noch immer nicht, wer die große Liebe gewesen ist.«
Anna schwieg und sah vor sich hin.
»Nun, Anna! Du hast mir ja versprochen, nicht wahr?«
Ohne ihn anzusehen, erwiderte sie:»Wenn du nur ahntest, wie sonderbar mir heute die Geschichte vorkommt.«
»Warum sonderbar?«
»Weil der, nach dem du fragst, eigentlich ein alter Mann gewesen ist.«
»Fünfunddreißig«, scherzte Georg,»nicht wahr?«
Sie schüttelte ernsthaft den Kopf.»Er war achtundfünfzig oder sechzig.«
»Und du?«fragte Georg langsam.
»Im Sommer waren es zwei Jahre. Einundzwanzig war ich damals.«
Georg blieb plötzlich stehen.»Nun weiß ich es, dein Gesangslehrer war es. Nicht wahr?«
Anna antwortete nicht.
»Also wirklich«, sagte Georg, ohne sich eigentlich zu wundern, denn es war ihm nicht unbekannt, daß sich in den berühmten Meister, trotz seiner grauen Haare, alle Schülerinnen verliebten.
»Und den«, fragte Georg,»hast du am meisten geliebt von allen Menschen, die dir begegnet sind?«
»Seltsam, nicht wahr? Aber es ist doch so…«
»Hat er es gewußt?«
»Ich glaub schon.«
Sie waren auf einen ausgeweiteten Platz gekommen mit einer kleinen Gartenanlage, die nur spärlich beleuchtet war. Hinten erhob sich rötlich schimmernd eine Kirche. Dorthin, als zög es sie an einen stillern Ort, wandelten sie unter dunkeln, leise schwankenden Ästen.
»Und was ist denn eigentlich zwischen euch vorgefallen, wenn man fragen darf?«
Anna schwieg, und Georg hielt in diesem Augenblick alles für möglich. Selbst, daß Anna die Geliebte jenes Menschen gewesen wäre. Aber innerhalb des Unbehagens, das er bei diesem Gedanken empfand, regte sich leise und kaum bewußt der Wunsch in ihm, seine Befürchtung bestätigt zu hören. Denn wie leicht und verantwortungslos ließ dies Abenteuer sich an, wenn Anna schon einem andern gehört hatte, eh sie die Seine wurde.
»Ich will dir die ganze Geschichte erzählen«, sagte Anna endlich.»Sie ist wirklich nicht so schrecklich.«
»Also?«fragte Georg, seltsam gespannt.
»Einmal nach der Stunde«, begann Anna zögernd,»hat er mir galant in die Jacke hineingeholfen. Und plötzlich hat er mich an sich gezogen und mich umarmt und geküßt.«
»Und du…?«
»Ich… ich war ganz berauscht.«
»Berauscht…«
»Ja, es war etwas Unbeschreibliches. Er hat mich auf die Stirn geküßt und auf den Mund und aufs Haar… und dann hat er meine Hand genommen und hat allerlei Worte gemurmelt, die ich gar nicht recht gehört hab…«
»Und…«
»Und dann… dann waren Stimmen daneben… er hat meine Hand losgelassen… und es war aus.«
»Aus?«
»Ja, aus. Selbstverständlich war es aus.«
»Gar so selbstverständlich find ich das eigentlich nicht. Du hast ihn doch wiedergesehen.«
»Freilich, ich hab ja weiter bei ihm gelernt.«
»Und…?«
»Ich sag dir doch, es war aus… vollkommen, als wär überhaupt nie was gewesen.«
Georg wunderte sich, daß er sich beruhigt fühlte.»Und er hat nie wieder den Versuch gemacht?«fragte er.
»Nie wieder. Es wäre auch lächerlich gewesen. Und da er sehr klug war, hat er das selbst ganz gut gewußt. Vorher, es ist ja wahr, hatt ich ihn sehr geliebt. Aber nach diesem Vorfall war er nichts andres mehr für mich, als mein alter Lehrer. Gewissermaßen sogar älter, als er in Wirklichkeit war. Ich weiß nicht, ob du das so ganz verstehen kannst. Es war, als ob er den ganzen Rest seiner Jugend verschwendet hätte in jenem Augenblick.«
»Ich verstehe es ganz gut«, sagte Georg. Er glaubte ihr und liebte sie mehr als früher. Sie traten in die Kirche. Es war fast dunkel in dem weiten Raum. Nur vor einem Seitenaltar brannten trübe Kerzen, und drüben, hinter einer kleinen Heiligenstatue, schimmerte ein armes Licht. Ein breiter Strom von Weihrauchduft floß zwischen Wölbung und Steinfliesen hin. Der Meßner ging umher und klapperte leise mit den Schlüsseln. In den Bänken rückwärts, regungslos, dämmerten Gestalten. Langsam schritt Georg mit Anna vorwärts und fühlte sich wie ein junger Gatte auf Reisen, der mit seiner jungen Frau eine Kirche besichtigt. Er sagte es Anna. Sie nickte nur.»Es wär aber noch viel schöner«, flüsterte Georg, während sie eng aneinander geschmiegt vor der Kanzel standen,»wenn man wirklich miteinander irgendwo in der Fremde wäre…«
Sie sah ihn an, wie beglückt und doch wie fragend; und er erschrak über seine eigenen Worte. Wenn Anna sie als ernsthafte Aufforderung oder gar als eine Art von Werbung aufgefaßt hätte? War er nicht verpflichtet sie aufzuklären, daß sie nicht so gemeint waren?… Ein Gespräch fiel ihm ein, von neulich, als sie an einem windig-regnerischen Tag unter dem Schirm eingehängt über die Linie hinaus gegen Schönbrunn spaziert waren. Er hatte ihr den Vorschlag gemacht, mit ihm in die Stadt zu fahren und in irgend einem abgeschiedenen Gasthauszimmer mit ihm zu nachtmahlen; sie mit jener Frostigkeit, in der ihr ganzes Wesen manchmal erstarrte, hatte darauf erwidert:»für solche Sachen bin ich nicht.«Er hatte nicht weiter in sie gedrungen. Doch eine Viertelstunde später, allerdings im Lauf einer Unterhaltung über Georgs Lebensführung, aber vieldeutig lächelnd hatte sie die Worte zu ihm gesprochen:»Du hast keine Initiative, Georg.«Und in diesem Augenblick war ihm plötzlich gewesen, als täten sich Untiefen ihrer Seele auf, niemals vermutete und gefährliche, vor denen es gut war, sich in acht zu nehmen. Daran mußte er jetzt wieder denken. Was mochte in ihr denn vorgehen?… Was wünschte sie und worauf war sie gefaßt?… Und was wünschte, was ahnte er selbst? Das Leben war ja so unberechenbar. War es nicht sehr gut möglich, daß er wirklich einmal mir ihr draußen in der Welt herumreisen, eine Zeit des Glücks mit ihr durchleben… und endlich von ihr scheiden würde, wie er von mancher andern geschieden war? Doch wenn er an das Ende dachte, das jedenfalls kommen mußte, ob es nun der Tod bringen mochte oder das Leben selbst, so fühlte er es wie ein gelindes Weh im Herzen… Noch immer schwieg sie. Fand sie wieder, daß es ihm an Initiative fehlte?… Oder dachte sie vielleicht: Es wird mir ja doch gelingen, ich werde seine Frau sein…?
Da fühlte er ihre Hand ganz leise über die seine streichen, mit einer ihm wie neuen, sehr wohltuenden Zärtlichkeit.»Du, Georg«, sagte sie.
»Was denn?«fragte er.
»Wenn ich fromm wäre«, erwiderte sie,»möcht ich jetzt um was beten.«
»Um was?«fragte Georg beinahe ängstlich.
»Daß was aus dir wird, Georg. Was sehr Bedeutendes! Ein wirklicher, ein großer Künstler.«
Unwillkürlich blickte er zu Boden, wie in Beschämung, daß ihre Gedanken um soviel reinere Wege gegangen waren als die seinen.
Ein Bettler hielt den dicken, grünen Vorhang offen, Georg gab dem Mann ein Geldstück; sie waren im Freien. Straßenlichter glänzten auf, Geräusche von Wagen und Rolläden waren nah, Georg fühlte, wie ein feiner Schleier zerriß, den der Kirchendämmer um ihn und sie gewoben hatte, und in befreitem Ton schlug er eine kleine Spazierfahrt vor. Anna war gern einverstanden. In einem offenen Fiaker, dessen Dach sie über sich aufspannen ließen, fuhren sie die Straße hinab, ließen sich um den Ring führen, ohne viel von Gebäuden und Gärten zu sehen, sprachen kein Wort und schmiegten sich enger aneinander. Sie fühlten jeder die eigne und des andern Ungeduld und wußten, daß es kein Zurück mehr gab.
In der Nähe von Annas Wohnung sagte Georg:»Wie schade, daß du schon nach Hause mußt.«
Sie zuckte die Achseln und lächelte sonderbar. Die Untiefen, dachte Georg wieder, aber ohne Angst, heiter beinahe. Eh der Wagen an der Ecke hielt, verabredeten sie ein Rendezvous für den nächsten Vormittag, im Schwarzenberggarten, dann stiegen sie aus. Anna eilte nach Hause, und Georg bummelte langsam gegen die Stadt zu.
Er überlegte, ob er ins Kaffeehaus gehen sollte. Er hatte keine rechte Lust dazu. Bermann blieb heute wohl bei Ehrenbergs zum Souper, auf Leo Golowskis Kommen war nur selten zu rechnen; und die andern jungen Leute, meist jüdische Literaten, die Georg in der letzten Zeit flüchtig kennen gelernt hatte, lockten ihn nicht eben an, wenn er auch manche von ihnen nicht uninteressant gefunden hatte. Im ganzen fand er den Ton der jungen Leute untereinander bald zu intim, bald zu fremd, bald zu witzelnd, bald zu pathetisch; keiner schien sich dem andern, kaum einer sich selbst mit Unbefangenheit zu geben. Heinrich hatte übrigens neulich erklärt, er wollte mit dem ganzen Kreis nichts mehr zu tun haben, der ihm seit seinen Erfolgen durchaus gehässig gesinnt sei. Georg hielt es allerdings für möglich, daß Heinrich in seiner eiteln und hypochondrischen Art Feindseligkeiten und Verfolgungen auch dort witterte, wo vielleicht nur Gleichgültigkeit oder Antipathie vorhanden waren. Er für seinen Teil wußte, daß es weniger Freundschaft war, die ihn zu dem jungen Schriftsteller hinzog, als Neugier, einen seltsamen Menschen näher kennen zu lernen; vielleicht auch das Interesse, in eine Welt hineinzuschauen, die ihm bisher ziemlich fremd geblieben war. Denn während er selbst nach wie vor sich ziemlich zurückhaltend verhalten und insbesondere über seine Beziehungen zu Frauen jede Andeutung vermieden, hatte ihm Heinrich nicht nur von der fernen Geliebten erzählt, für die er Qualen der Eifersucht zu leiden behauptete, sondern auch von einer hübschen, blonden Person, mit der er in der letzten Zeit seine Abende zu verbringen pflegte, um sich zu betäuben, wie er mit Selbstironie hinzufügte; nicht nur von seinen Wiener Studenten- und Journalistenjahren, die noch nicht weit zurücklagen, sondern auch von der Kinder- und Knabenzeit in der kleinen böhmischen Provinzstadt, wo er vor dreißig Jahren zur Welt gekommen war. Sonderbar und zuweilen fast peinlich erschien Georg der wie aus Zärtlichkeit und Widerwillen, aus Gefühlen von Anhänglichkeit und von Losgerissensein gemischte Ton, in dem Heinrich von den Seinen, insbesondere von dem kranken Vater sprach, der in jener kleinen Stadt Advokat, und eine Zeitlang Reichsratsabgeordneter gewesen war. Ja, er schien sogar ein wenig stolz darauf zu sein, daß er als Zwanzigjähriger schon dem allzu Vertrauensseligen sein Schicksal vorausgesagt hatte, genau so wie es sich später erfüllen sollte: nach einer kurzen Epoche der Beliebtheit und des Erfolgs hatte das Anwachsen der antisemitischen Bewegung ihn aus der deutsch-liberalen Partei gedrängt, die meisten Freunde hatten ihn verlassen und verraten, und ein verbummeltet Kouleurstudent, der in den Versammlungen die Tschechen und Juden als die gefährlichsten Feinde deutscher Zucht und Sitte hinstellte, daheim seine Frau prügelte und seinen Mägden Kinder machte, war sein Nachfolger im Vertrauen der Wähler und im Parlament geworden. Heinrich, dem die Phrasen des Vaters von Deutschtum, Freiheit, Fortschritt in all ihrer Ehrlichkeit immer gegen den Strich gegangen waren, hatte dem Niedergang des alternden Mannes anfangs wie mit Schadenfreude zugesehen; allmählich erst, als der einst gesuchte Anwalt auch seine Klienten zu verlieren begann, und die materiellen Verhältnisse der Familie sich von Tag zu Tag verschlechterten, stellte bei dem Sohne sich ein verspätetes Mitleid ein. Er hatte seine juristischen Studien früh genug aufgegeben und mußte den Seinen durch journalistische Tagesarbeit zu Hilfe kommen. Seine ersten künstlerischen Erfolge fanden in dem verdüsterten Hause der Heimat kein Echo mehr. Dem Vater nahte unter schweren Zeichen der Wahnsinn, und der Mutter, für die gleichsam Staat und Vaterland zu existieren aufgehört hatten, als ihr Mann nicht wieder ins Parlament gewählt wurde, versank nun, da dieser in geistige Nacht fiel, die ganze Welt. Die einzige Schwester Heinrichs, einst ein blühendes und tüchtiges Geschöpf, war nach einer unglücklichen Leidenschaft für eine Art von Provinz-Don Juan in Schwermut verfallen, und krankhaft eigensinnig gab sie dem Bruder, mit dem sie sich in der Jugend vortrefflich verstanden hatte, die Schuld an dem Unglück des elterlichen Hauses. Auch von andern Verwandten erzählte Heinrich, deren er aus früherer Zeit sich erinnerte, und ein teils lächerlicher, teils rührender Zug fromm beschränkter alter Juden und Jüdinnen schwebte an Georg vorüber, wie Gestalten einer andern Welt. Er mußte es am Ende begreifen, daß Heinrich durch keinerlei Heimweh nach jener kleinen, von kläglichem Parteihader zerrissenen Stadt, in die dumpfe Enge des zugrunde gehenden Elternhauses sich zurückgerufen fühlte, und sah ein, daß Heinrichs Egoismus ihm zugleich Rettung und Befreiung bedeutete.
Vom Turm der Michaelerkirche schlug es neun, als Georg vor dem Kaffeehaus stand. An einem Fenster, das der Vorhang nicht verhüllte, sah er den Kritiker Rapp sitzen, einen Stoß von Zeitungen vor sich auf dem Tisch. Eben hatte er den Zwicker von der Nase genommen, putzte ihn, und so sah das blasse, sonst so hämisch-kluge Gesicht, mir den stumpfen Augen wie tot aus. Ihm gegenüber, mit ins Leere gehenden Gesten, saß der Dichter Gleißner, im Glanze seiner falschen Eleganz, mir einer ungeheuern, schwarzen Krawatte, darin ein roter Stein funkelte. Als Georg, ohne ihre Stimmen zu hören, nur die Lippen der beiden sich bewegen und ihre Blicke hin- und hergehen sah, faßte er es kaum, wie sie es ertragen konnten in dieser Wolke von Haß sich eine Viertelstunde lang gegenüber zu sitzen. Er fühlte mit einemmal, daß dies die Atmosphäre war, in der das Leben dieses ganzen Kreises sich abspielte, und durch die nur manchmal erlösende Blitze von Geist und von Selbsterkenntnis zuckten. Was hatte er mit diesen Leuten zu tun? Eine Art von Grauen erfaßte ihn, er wandte sich ab und entschloß sich, statt ins Kaffeehaus zu gehen, endlich wieder einmal den Klub aufzusuchen, dessen Räume er seit Monaten nicht betreten hatte. Es waren nur wenige Schritte bis dahin. Bald stieg Georg die breite Marmortreppe hinauf, begab sich in den kleinen Speisesaal mit den lichtgrünen Vorhängen und wurde von Ralph Skelton, dem Attaché der englischen Botschaft, und Doktor von Breitner, die in einer Ecke beim Souper saßen, als ein lang Vermißter mit gedämpfter Herzlichkeit begrüßt. Man sprach von dem Turnier, das bevorstand, von dem Bankett, das zu Ehren der ausländischen Fechtmeister veranstaltet werden sollte; plauderte über die neue Operette am Wiedner Theater, in der Fräulein Lovan als Bajadere beinahe nackt aufgetreten war, und über das Duell des Fabrikanten Heidenfeld mit dem Leutnant Novotny, in dem der beleidigte Ehemann gefallen war. Nach dem Essen spielte Georg mit Skelton eine Partie Billard und gewann. Er fühlte sich immer behaglicher und nahm sich vor, von nun an wieder öfters diese luftigen und hübsch ausgestatteten Räume zu besuchen, in denen angenehme, gut angezogene junge Leute verkehrten, mit denen man sich in guter und leichter Weise unterhalten konnte. Felician erschien, erzählte seinem Bruder, daß es bei Ehrenbergs noch ganz amüsant geworden war und brachte ihm Grüße von Frau Marianne. Breitner, eine seiner berühmten Riesenzigarren im Mund, gesellte sich zu den Brüdern und sprach davon, daß im Speisesaal nächstens die Bilder einiger verdienter Klubmitglieder aufgehängt werden sollten, vor allem das des jungen Labinski, der im vorigen Jahr durch Selbstmord geendet hatte. Und Georg mußte an Grace denken, an das seltsam glühend-kalte Gespräch mit ihr auf dem Friedhof im schmelzenden Februarschnee und an jene wundervolle Nacht, auf dem mondbeglänzten Deck des Dampfers, der sie beide von Palermo nach Neapel gebracht hatte. Er wußte kaum, nach welcher Frau er sich am meisten sehnte in diesem Augenblick: nach Marianne, der Verlassenen, nach Grace, der Entschwundenen, oder nach dem anmutigen jungen Geschöpf, mit dem er vor ein paar Stunden in einer dämmrigen Kirche herumspaziert war, wie Hochzeitsreisende in einer fremden Stadt, und das den Himmel hatte anflehen wollen, daß ein großer Künstler aus ihm würde. In der Erinnerung daran verspürte er eine gelinde Rührung. War es nicht beinahe, als läge ihr mehr an seiner künstlerischen Zukunft als ihm selbst?… Nein,… nicht mehr. Sie hatte ja doch nur ausgesprochen, was immer tief im Grunde seiner Seele schlummerte. Er vergaß nur sozusagen manchmal, daß er ein Künstler war. Aber das mußte anders werden. So viel war begonnen und vorbereitet. Nur etwas Fleiß, und es konnte am Erfolg nicht fehlen. Und im nächsten Jahr ging es hinaus in die Welt. Eine Kapellmeisterstelle war bald gefunden, und mit einem kräftigen Sprung stand man mitten in einem Beruf, der Geld und Ehren brachte. Neue Menschen lernte er kennen, ein anderer Himmel glänzte über ihm, und geheimnisvoll wie aus fernem Nebel, streckten unbekannte weiße Arme sich nach ihm aus. Und während die jungen Leute neben ihm sehr ernsthaft die Chancen der Kämpfer bei dem bevorstehenden Turnier erwogen, träumte Georg in seiner Ecke weiter von einer Zukunft voll Arbeit, Ruhm und Liebe.
Zur gleichen Stunde lag Anna in ihrem dunkeln Zimmer, ohne zu schlafen, die weit offenen Augen zur Decke gerichtet; zum erstenmal in ihrem Leben mit dem untrüglichen Gefühl, daß es einen Menschen auf der Welt gab, der aus ihr machen konnte, was ihm beliebte; mit dem festen Entschluß, alle Seligkeit und alles Leid hinzunehmen, das ihr bevorstehen mochte; und mit einer leisen Hoffnung, schöner, als alle, die ihr je erschienen waren, auf ein beständiges und ruhevolles Glück.
Drittes Kapitel
Georg und Heinrich saßen von ihren Rädern ab. Die letzten Villen lagen hinter ihnen, und die breite Straße, allmählich ansteigend, führte in den Wald. Das Laub hing noch ziemlich dicht an den Bäumen, aber jeder leise Windhauch nahm Blätter mit und ließ sie langsam herabsinken. Herbstglanz lag über den gelbrötlichen Hügeln. Die Straße stieg höher an, an einem stattlichen Wirtshausgarten vorbei, zu dem steinerne Stufen hinaufführten. Nur wenige Leute saßen im Freien, die meisten in der Glasveranda, als trauten sie nicht ganz der Wärme dieses schmeichlerischen Spätoktobertags, durch den doch immer wieder eine gefährliche Kühle geweht kam. Georg dachte mit ödem Erinnern des Winterabends, an dem er und Frau Marianne als einzige Gäste hier eingekehrt waren. Gelangweilt war er an ihrer Seite gesessen, hatte ungeduldig ihr plätscherndes Gerede über das Konzert von gestern angehört, in dem Fräulein Bellini seine Lieder gesungen; und als er auf der Rückfahrt wegen Mariannens Ängstlichkeit schon in einer Vorstadtstraße aus dem Wagen steigen mußte, hatte er wie erlöst aufgeatmet. Ein ähnliches Gefühl der Befreitheit kam freilich beinahe jedesmal über ihn, wenn er, auch nach schönerem Zusammensein, von einer Geliebten Abschied nahm. Selbst als er Anna an ihrem Haustor verlassen hatte, vor drei Tagen, nach dem ersten Abend vollkommenen Glücks, war er sich, früher als jeder anderen Regung, der Freude bewußt geworden, wieder allein zu sein. Und gleich darauf, ehe noch das Gefühl des Danks und die Ahnung einer wirklichen Zusammengehörigkeit mit diesem sanften, sein ganzes Wesen mit so viel Innigkeit umschließenden Geschöpf in seiner Seele emporzudringen vermochte, flog durch sie ein sehnsuchtsvoller Traum von Fahrten über ein schimmerndes Meer, von Küsten, die sich verführerisch nähern, von Spaziergängen an Ufern, die am nächsten Tage wieder verschwinden, von blauen Fernen, Ungebundenheit und Alleinsein. Am andern Morgen, da den Erwachenden der Duft des vergangenen Abends erinnerungs- und verheißungsschwer umfloß, wurde die Reise natürlich aufgeschoben, bis zu einer spätern, vielleicht nicht gar so fernen, doch gelegeneren Zeit. Denn daß auch dieses Abenteuer, so ernst und hold es begonnen, zu einem Ende bestimmt war, wußte Georg selbst in dieser Stunde, nur ohne jeden Schauer. Anna hatte sich ihm gegeben, ohne mit einem Wort, einem Blick, einer Gebärde anzudeuten, daß nun für sie gewissermaßen ein neues Kapitel ihres Lebens anfing. Und so mußte von ihr, das fühlte Georg tief, auch der Abschied ohne Düsterkeit und Schwere sein: ein Händedruck, ein Lächeln und ein stilles»es war schön«. Und leichter noch war ihm zumute geworden, als sie ihm bei der nächsten Begegnung mit einfach innigem Gruß entgegenkam, ohne die befangenen Töne anschmiegender Wehmut, oder erfüllten Schicksals, wie er sie in den Worten mancher andern beben gehört hatte, die zu einem solchen Morgen nicht zum erstenmal erwacht war.
Eine mattgezogene Berglinie erschien in der Ferne und verschwand wieder, als die Straße durch dichtern Waldstand in die Höhe führte. Laub- und Nadelholz wuchsen friedlich nebeneinander, und durch die stillere Farbe der Tannen schimmerte das herbstlich gefärbte Blätterwerk von Buchen und Birken. Wanderer zeigten sich, einige mit Rucksack, Bergstock und Nagelschuhen wie zu bedeutenden Gebirgstouren ausgerüstet; zuweilen, in beglückter Schnelle, sausten Radfahrer die Straße hinab.
Heinrich erzählte seinem Gefährten von einer Radfahrt, die er anfangs September unternommen hatte, den Rhein entlang.
»Ist es nicht sonderbar«, sagte Georg,»so viel bin ich schon in der Welt herumgekommen, und die Gegend, wo meine Ahnen zu Hause waren, kenn ich noch gar nicht.«
»Wirklich?«fragte Heinrich.»Und es regt sich gar nicht in Ihnen, wenn Sie das Wort Rhein aussprechen hören?«
Georg lächelte.»Es sind immerhin bald hundert Jahre, daß meine Urgroßeltern aus Biebrich fortgezogen sind.«
»Warum lächeln Sie, Georg? Daß meine Ahnen aus Palästina fortgewandert sind, ist noch viel länger her, und doch fordern manche, sonst ganz logische Leute, daß mein Herz in Heimweh nach diesem Lande bebe.«
Georg schüttelte ärgerlich den Kopf.»Was kümmern Sie sich immerfort um diese Leute. Es wird wirklich schon zur fixen Idee bei Ihnen.«
»Ach Sie glauben, ich denke an die Antisemiten? Durchaus nicht. Denen nehm ichs auch weiter nicht übel, manchmal wenigstens. Aber fragen Sie nur einmal unsern Freund Leo, wie er über diese Angelegenheit denkt.«
»Ach so, den meinen Sie. Na, der faßt doch das nicht so wörtlich auf, sondern gewissermaßen symbolisch oder politisch«, setzte er unsicher hinzu.
Heinrich nickte.»Diese beiden Begriffe liegen vielleicht hart nebeneinander in Köpfen solcher Art.«Er versank für eine Weile in Nachdenken, schob sein Rad in leichten, ungeduldigen Stößen vorwärts und war gleich wieder um ein paar Schritte voraus. Dann begann er wieder von seiner Septemberreise zu sprechen. Beinahe mit Ergriffenheit dachte er an sie zu rück. Alleinsein, Fremde, Bewegung, war es nicht ein dreifaches Glück, das er genossen?»Was für ein Gefühl von innerer Freiheit mich damals durchfloß«, sagte er,»kann ich Ihnen kaum beschreiben. Kennen Sie diese Stimmungen, in denen alle Erinnerungen, ferne und nahe, sozusagen ihre Lebensschwere verlieren; alle Menschen, mit denen man sonst irgendwie verbunden ist, durch Schmerzen, Sorgen, Zärtlichkeit, einen nur mehr wie Schatten umschweben, oder richtiger gesagt, wie Gestalten, die man selbst erfunden hat? Und die erfundenen Gestalten, die stellen sich natürlich auch ein und sind mindestens geradso lebendig wie die Menschen, an die man sich eben als an wirkliche erinnert. Da entwickeln sich dann die allerseltsamsten Beziehungen zwischen den wirklichen und den erfundenen Figuren. Ich könnte Ihnen von einer Unterhaltung berichten, die zwischen meinem verstorbenen Großonkel, der Rabbiner war, und dem Herzog Heliodor stattgefunden hat, wissen Sie, mit dem, der sich in meinem Opernstoff herumtreibt, eine Unterhaltung so amüsant, so tiefsinnig, wie im allgemeinen weder das Leben noch Operntexte zu sein pflegen… Ja, wundervoll sind solche Reisen! Und so geht es durch Städte, die man niemals gesehen hat und vielleicht nie wieder sehen wird, an lauter unbekannten Gesichtern vorüber, die gleich wieder für alle Ewigkeit verschwinden… und dann saust man weiter auf heller Straße zwischen Strom und Weingeländen. Wahrhaft reinigend sind solche Stimmungen. Schade, daß sie einem so selten geschenkt sind!«
Georg empfand stets eine gewisse Verlegenheit, wenn Heinrich pathetisch wurde.»Jetzt könnte man vielleicht wieder fahren«, sagte er, und sie schwangen sich auf die Räder. Ein schmaler, ziemlich holpriger Seitenweg zwischen Wiese und Wald führte sie bald zu einem unerbaulich kahlen, zweistöckigen Haus, das sich durch ein mürrisch braunes Schild als Wirtshaus zu erkennen gab. Auf der Wiese, die durch die Straße vom Haus geschieden war, stand eine große Menge von Tischen, manche mit einstmals weiß gewesenen, andre mit geblümten Tüchern bedeckt. Hart an der Straße, an einigen zusammengerückten Tischen, saßen zehn oder zwölf junge Leute, Mitglieder eines Radfahrklubs. Mehrere hatten ihre Röcke abgelegt, andre trugen sie flott übergehängt; auf den himmelblauen, gelb eingefaßten Sweaters prangten Embleme in erhabener roter und grüner Stickerei. Mächtig, aber nicht sehr rein tönte ein Chorlied zum Himmel auf:»Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte.«
Heinrich überflog die Gesellschaft mit einem raschen Blick, kniff die Augen zusammen und sagte zu Georg, mit zusammengepreßten Zähnen und heftig betont:»Ich weiß nicht, ob diese Jünglinge bieder, treu und mutig sind, wofür sie sich jedenfalls halten; daß sie aber nach Wolle und Schweiß duften, ist gewiß, und daher wäre ich dafür, daß wir in angemessener Entfernung von ihnen Platz nehmen.«
Was will er eigentlich, dachte Georg bei sich. Wäre es ihm sympathischer, wenn hier eine Gesellschaft von polnischen Juden säße und Psalmen sänge?
Beide schoben ihre Räder zu einem entferntem Tische hin und ließen sich nieder. Ein Kellner erschien, in schwarzem, von Fett- und Gemüseflecken übersäten Frack, fegte mit einer schmutzigen Serviette heftig über den Tisch, nahm die Bestellungen entgegen und verschwand.
»Ist es nicht jämmerlich«, sagte Heinrich,»daß in der nächsten Umgebung von Wien beinahe überall so verwahrloste Wirtshäuser stehen? Es macht einen geradezu trübsinnig.«
Georg fand diese übertriebene Wehmut nicht angebracht.»Ach Gott, auf dem Land«, meinte er,»man nimmt es eben mit. Es gehört fast dazu.«
Heinrich ließ diese Auffassung nicht gelten, begann den Plan zur Gründung von sieben Hotels an den Wienerwaldgrenzen zu entwickeln und berechnete eben, daß man dazu höchstens drei bis vier Millionen benötige, als plötzlich Leo Golowski dastand. Er war im Zivilanzug, der, wie oft bei ihm, eines etwas bizarren Elements nicht entbehrte. Heute trug er zu einem hellgrauen Sacco eine blaue Samtweste und eine gelbliche Seidenkrawatte in glattem Stahlring. Die beiden andern begrüßten ihn erfreut und äußerten einige Überraschung.
Leo setzte sich zu ihnen:»Ich habe ja gehört«, sagte er,»wie Sie gestern Abend Ihre Partie verabredet haben, und als wir heute schon um neun aus der Kaserne entlassen wurden, dacht ich mir gleich, es wäre doch hübsch mit zwei klugen, sympathischen Menschen eine Stunde im Freien zu verplauschen. So bin ich nach Haus, hab mich in Zivil geworfen und auf den Weg gemacht.«Er sagte das in seinem gewöhnlichen, liebenswürdigen, fast naiv klingenden Ton, der Georg immer wieder gefangen nahm, aber in der Erinnerung für ihn einen Beiklang von Ironie, ja von Falschheit zu bekommen pflegte. Doch schien dieser gleichsam schillernde Klang Leos Worten nur in gleichgültiger Unterhaltung eigen; ernste Gespräche wußte er mit einer Bestimmtheit zu führen, die Georg geradezu imponierte. In der letzten Zeit hatte er einigemale Gelegenheit gehabt, im Kaffeehaus Diskussionen zwischen Leo und Heinrich über kunsttheoretische Fragen, insbesondere über die Beziehungen zwischen den Gesetzen der Musik und der Mathematik anzuhören. Leo glaubte der Ursache auf der Spur zu sein, aus der Dur- und Molltonarten die menschliche Seele in so verschiedener Weise berührten. Gerne folgte Georg seinen klaren und scharfsinnigen Auseinandersetzungen, wenn sich auch etwas in ihm gegen den verwegenen Versuch wehrte, allen Zauber und alles Geheimnis der Klänge aus dem Walten von Gesetzen gedeutet zu hören, die, ebenso unerbittlich wie diejenigen, nach denen sich Erde und Sterne drehten, mit jenen ewigen aus gleicher Wurzel stammen sollten. Nur wenn Heinrich die Theorien Leos weiterzuführen und gelegentlich auf Schöpfungen der Wortkunst anzuwenden suchte, wurde Georg ungeduldig und fühlte sich sofort als stillen Verbündeten Leos, der zu Heinrichs phantastischen und wirren Ausführungen mild zu lächeln pflegte.
Das Essen wurde aufgetragen, und die jungen Leute ließen sichs schmecken; Heinrich nicht weniger als die andern, trotzdem er sich über die Minderwertigkeit der Küche höchst mißbilligend äußerte und das Vorgehen des Wirts nicht nur als Ausdruck persönlich niedriger Gesinnung, sondern als charakteristisch für den Niedergang Österreichs auf vielen andern Gebieten aufzufassen geneigt war. Das Gespräch kam auf die militärischen Zustände des Landes, und Leo gab Schilderungen von Kameraden und Vorgesetzten zum besten, über die die beiden andern sich sehr amüsierten. Insbesondere ein Oberleutnant gab zur Heiterkeit Anlaß, der sich der Freiwilligenabteilung mit den gefahrverkündenden Worten vorgestellt hatte:»Mit mir wern S' nix zu lachen haben, ich bin eine Bestie in Menschengestalt.«
Während sie noch aßen, trat ein Herr an den Tisch, schlug die Hacken aneinander, legte die Hand salutierend an die Radfahrkappe, grüßte mit einem scherzhaften»all Heil«, fügte für Leo noch ein kameradschaftliches»servus«hinzu und stellte sich Heinrich vor:»Josef Rosner ist mein Name«. Hierauf begann er jovial die Unterhaltung mit den Worten:»Die Herren machen auch eine Radpartie…«Da man nicht widersprach, fuhr er fort:»Die letzten schönen Tage muß man benützen, lange wird ja die Herrlichkeit nicht mehr dauern.«
»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Rosner?«fragte Georg höflich.
»Küß die Hand, aber…«, er wies auf seine Gesellschaft…»wir sind soeben im Aufbruch begriffen, haben noch viel vor, fahren bis Tulln hinunter und dann über Stockerau nach Wien. Die Herren erlauben…«er nahm ein Zündhölzchen vom Tisch und brannte seine Zigarette vornehm an.
»Bei was für einem Klub bist du denn eigentlich?«fragte Leo, und Georg wunderte sich über das»du«, bis ihm einfiel, daß die beiden Jugendbekannte waren.
»Das ist der Sechshauser Radfahrklub«, erwiderte Josef. Obzwar kein Staunen geäußert wurde, setzte er hinzu:»Die Herren werden sich wundern, daß ich als Margaretner Kind diesem vorortlichen Klub angehöre, aber es ist auch nur, weil ein guter Freund von mir dort Obmann ist. Sehen Sie dieser Dicke dort, der jetzt gerade in den Rock hineinschlieft. Es ist nämlich der junge Jalaudek, der Sohn von dem Stadtrat und Abgeordneten.«
»Jalaudek…«, wiederholte Heinrich mit deutlichem Ekel in der Stimme und sagte nichts weiter.
»Ah«, meinte Leo,»das ist ja der, der neulich in einer Debatte über den Volksbildungsverein diese prachtvolle Definition von Wissenschaft gegeben hat. Haben Sie nicht gelesen?«wandte er sich zu den andern.
Diese erinnerten sich nicht.
»Wissenschaft«, zitierte Leo,»Wissenschaft ist das, was ein Jud vom andern abschreibt.«
Alle lachten. Auch Josef, der aber sofort erläuterte:»Eigentlich ist er gar nicht so, ich kenn ihn ja. Nur im politischen Leben ist er so grob… weil also nämlich da die Gegensätze aufeinanderplatzen in unserm lieben Österreich. Aber für gewöhnlich ist er ein sehr umgänglicher Herr. Da ist der Junge viel radikaler.«
»Ist euer Klub christlich-sozial oder deutsch-national?«fragte Leo verbindlich.
»O, da wird bei uns kein Unterschied gemacht, nur natürlich, wie das schon so ist…«, er unterbrach sich plötzlich verlegen.
»Nun ja«, ermutigte ihn Leo,»daß euer Klub judenrein ist, das ist doch selbstverständlich. Man merkt's auch schon von weitem.«
Josef hielt es für das richtigste zu lachen. Dann sagte er:»O bitte sehr, auf den Bergen schweigt die Politik; überhaupt die Herren machen sich da falsche Begriffe, wenn wir schon über dieses Thema reden. Wir haben zum Beispiel einen im Klub, der ist mit einer Israelitin verlobt. Aber sie winken mir schon. Habe die Ehre, meine Herrschaften, servus Leo, all Heil.«Er salutierte wieder und entfernte sich wiegenden Schrittes. Die andern, unwillkürlich lächelnd, blickten ihm nach.
Dann fragte Leo plötzlich zu Georg gewandt:»Wie geht's denn eigentlich seiner Schwester mit dem Singen?«
»Wie?«sagte Georg aufgeschreckt und leicht errötend.
»Therese erzählt mir«, fuhr Leo ruhig fort,»daß Sie zuweilen mit Anna musizieren. Ist denn die Stimme jetzt in Ordnung?«
»Ja«, entgegnete Georg zögernd,»ich glaube schon, jedenfalls finde ich sie sehr angenehm, sehr wohllautend, besonders in der tiefern Lage. Schade, daß sie eben nicht ausreicht, für größere Räume, mein ich.«
»Nicht ausreicht«, wiederholte Leo nachdenklich,»das ist auch so ein Wort.«
»Wie würden Sie es denn bezeichnen?«
Leo zuckte die Achseln und blickte Georg ruhig an.»Sehen Sie«, sagte er,»ich habe die Stimme auch immer sehr sympathisch gefunden, aber selbst zur Zeit, als Anna die Idee hatte zur Bühne zu gehen… ehrlich gestanden, ich habe nie geglaubt, daß aus der Sache was wird.«
»Sie haben eben wahrscheinlich gewußt«, entgegnete Georg absichtlich leicht,»daß Fräulein Anna an dieser eigentümlichen Schwäche der Stimmbänder leidet.«
»Ja freilich wußt ich das; aber wäre sie zu einer künstlerischen Laufbahn bestimmt gewesen, innerlich bestimmt meine ich, so hätte sie diese Schwäche eben überwunden.«
»Sie glauben?«
»Ja, das glaub ich, das glaub ich ganz entschieden. Darum find ich, daß solche Worte wie ›eigentümliche Schwäche‹, oder ›die Stimme reicht nicht aus‹ gewissermaßen Umschreibungen für etwas Tieferes, Seelisches bedeuten. Es liegt offenbar nicht in der Linie ihres Schicksals, eine Künstlerin zu werden, das ist es. Sie war sozusagen von Anbeginn dazu bestimmt, im Bürgerlichen zu enden.«
Heinrich war mit der Theorie von der Schicksalslinie höchst einverstanden und führte den Gedanken in seiner krausen Art weiter und immer weiter, vom Geistreichen übers Verdrehte ins Unsinnige. Dann machte er den Vorschlag, man sollte sich für eine halbe Stunde auf die Wiese hin in die Sonne legen, die in diesem Jahr wohl nicht mehr oft so warm herunterscheinen werde. Die andern stimmten zu.
Hundert Schritt weit vom Wirtshaus streckten sich Georg und Leo auf ihre Mäntel aus. Heinrich setzte sich ins Gras, verschränkte die Arme über den Knien und sah vor sich hin. Zu seinen Füßen senkte sich die Wiese zum Walde hinab. Tiefer unten, in lockeres Laub vergraben, ruhten die Landhäuser von Neuwaldegg. Aus bläulich-grauen Nebeln hervor schimmerten die Turmkreuze und sonngeblendeten Fenster der Stadt, und ganz fern, als trüge bewegter Dunst sie empor, schwebte und verdämmerte die Ebene.
Spaziergänger schritten über die Wiese dem Wirtshaus zu. Einige grüßten im Vorübergehen und einer, ein noch junger Mann, der ein Kind an der Hand führte, bemerkte zu Heinrich:»Das ist aber einmal ein schöner Tag, grad als wie im Mai.«
Heinrich fühlte anfangs gegen seinen Willen, wie manchmal solch wohlfeiler, aber unvermuteter Freundlichkeit gegenüber, gleichsam sein Herz aufgehen. Sofort aber besann er sich, denn er wußte ja, auch dieser junge Mann war nur von der Milde des Tags, dem Frieden der Landschaft wie berauscht; in der Tiefe der Seele war auch der ihm feindselig gesinnt, gleich all den andern, die so harmlos an ihm vorbeispazierten. Und er verstand es wieder einmal selbst nicht recht, warum der Anblick dieser sanft-bewegten Hügel, dieser verdämmernden Stadt ihn so schmerzlich süß ergriff, da ihm doch die Menschen, die hier zu Hause waren, so wenig und selten etwas Gutes bedeuteten.
Der Radfahrklub sauste über die nahe Straße, die umgehängten Röcke wehten, die Embleme leuchteten, und ein rohes Lachen schallte über die Wiese.
»Gräßliches Volk«, meinte Leo beiläufig, ohne den Platz zu verändern.
Heinrich wies mit einer unbestimmten Kopfbewegung nach unten.»Und solche Kerle«, sagte er mit zugepreßten Zähnen,»bilden sich dann noch ein, daß sie da eher zu Hause sind als unsereiner.«
»Nun ja«, entgegnete Leo ruhig,»da werden sie wohl nicht so unrecht haben, diese Kerle.«
Heinrich wandte sich höhnisch zu ihm:»Verzeihen Sie, Leo, ich vergaß einen Augenblick, daß Sie selbst den Wunsch hegen, nur als geduldet zu gelten.«
»Das wünsche ich keineswegs«, erwiderte Leo lächelnd,»und Sie brauchen mich nicht gleich so boshaft mißzuverstehen. Aber daß diese Leute sich als die Einheimischen ansehen und Sie und mich als die Fremden, das kann man ihnen doch nicht übel neh men. Das ist doch schließlich nur der Ausdruck ihres gesunden Instinktes für eine anthropologisch und geschichtlich feststehende Tatsache. Dagegen und daher auch gegen alles, was daraus folgt, ist weder mit jüdischen noch mit christlichen Sentimentalitäten etwas auszurichten.«Und sich zu Georg wendend, fragte er in allzu verbindlichem Ton:»Finden Sie nicht auch?«
Georg errötete, räusperte, kam aber nicht dazu zu erwidern, da Heinrich, auf dessen Stirn zwei tiefe Falten erschienen, sofort erbittert das Wort nahm:»Mein Instinkt ist mir mindestens ebenso maßgebend wie der der Herren Jalaudek junior und senior, und dieser Instinkt sagt mir untrüglich, daß hier, gerade hier meine Heimat ist und nicht in irgend einem Land, das ich nicht kenne, das mir nach den Schilderungen nicht im geringsten zusagt und das mir gewisse Leute jetzt als Vaterland einreden wollen, mit der Begründung, daß meine Urahnen vor einigen tausend Jahren gerade von dort aus in die Welt verstreut worden sind. Wozu noch zu bemerken wäre, daß die Urahnen des Herrn Jalaudek, und selbst die unseres Freundes, des Freiherrn von Wergenthin, gerade so wenig hier zu Hause gewesen sind, als die meinen und die Ihrigen.«
»Sie dürfen mir nicht böse sein«, erwiderte Leo,»aber Ihr Blick in diesen Dingen ist doch ein wenig beschränkt. Sie denken immer an sich und an den nebensächlichen Umstand… pardon für diese Frage nebensächlichen Umstand, daß Sie ein Dichter sind, der zufällig, weil er in einem deutschen Land geboren, in deutscher Sprache und, weil er in Österreich lebt, über österreichische Menschen und Verhältnisse schreibt. Es handelt sich aber in erster Linie gar nicht um Sie und auch nicht um mich, auch nicht um die paar jüdischen Beamten, die nicht avancieren, die paar jüdischen Freiwilligen, die nicht Offiziere werden, die jüdischen Dozenten, die man nicht oder verspätet zu Professoren macht, das sind lauter Unannehmlichkeiten zweiten Ranges sozusagen; es handelt sich hier um ganz andre Menschen, die Sie nicht genau oder gar nicht kennen, und um Schicksale, über die Sie, ich versichere Sie, lieber Heinrich, über die Sie gewiß, trotz der Verpflichtung, die Sie eigentlich dazu hätten, noch nicht gründlich genug nachgedacht haben. Gewiß nicht… sonst könnten Sie über all diese Dinge nicht in so oberflächlicher und in so… egoistischer Weise reden, wie Sie es tun.«Er erzählte dann von seinen Erlebnissen auf dem Basler Zionistenkongreß, an dem er im vorigen Jahre teilgenommen hatte und wo ihm ein tieferer Einblick in das Wesen und den Gemütszustand des jüdischen Volkes gewährt worden wäre als je zuvor. In diese Menschen, die er zum erstenmal in der Nähe gesehen, war die Sehnsucht nach Palästina, das wußte er nun, nicht künstlich hineingetragen; in ihnen wirkte sie als ein echtes, nie erloschenes und nun mit Notwendigkeit neu aufflammendes Gefühl. Daran konnte keiner zweifeln, der, wie er, den heiligen Zorn in ihren Blicken hatte aufleuchten sehen, als ein Redner erklärte, daß man die Hoffnung auf Palästina vorläufig aufgeben und sich mit Ansiedlungen in Afrika und Argentinien begnügen müsse. Ja, alte Männer, nicht etwa ungebildete, nein, gelehrte, weise Männer hatte er weinen gesehen, weil sie fürchten mußten, daß das Land ihrer Väter, das sie, auch bei Erfüllung der kühnsten zionistischen Pläne, doch keineswegs mehr selbst hätten betreten können, sich vielleicht auch ihren Kindern und Kindeskindern niemals erschließen würde.
Verwundert, ja ein wenig ergriffen hatte Georg zugehört. Heinrich aber, der während Leos Erzählung mit kurzen Schritten auf der Wiese hin und hergegangen war, erklärte, daß ihm der Zionismus als die schlimmste Heimsuchung erschiene, die jemals über die Juden hereingebrochen war, und gerade Leos Worte hätten ihn davon tiefer überzeugt, als irgend eine Überlegung oder Erfahrung zuvor. Nationalgefühl und Religion, das waren seit jeher Worte, die in ihrer leichtfertigen, ja tückischen Vieldeutigkeit ihn erbitterten. Vaterland… das war ja überhaupt eine Fiktion, ein Begriff der Politik, schwebend, veränderlich, nicht zu fassen. Etwas Reales bedeutete nur die Heimat, nicht das Vaterland… und so war Heimatsgefühl auch Heimatsrecht. Und was die Religionen anbelangte, so ließ er sich christliche und jüdische Legenden so gut gefallen, als hellenische und indische; aber jede war ihm gleich unerträglich und widerlich, wenn sie ihm ihre Dogmen aufzudrängen suchte. Und zusammengehörig fühlte er sich mit niemandem, nein mit niemandem auf der Welt. Mit den weinenden Juden in Basel gerade so wenig, als mit den grölenden Alldeutschen im österreichischen Parlament; mit jüdischen Wucherern so wenig, als mit hochadeligen Raubrittern; mit einem zionistischen Branntweinschänker so wenig, als mit einem christlich-sozialen Greisler. Und am wenigsten würde ihn je das Bewußtsein gemeinsam erlittener Verfolgung, gemeinsam lastenden Hasses mit Menschen verbinden, denen er sich innerlich fern fühle. Als moralisches Prinzip und als Wohlfahrtsaktion wollte er den Zionismus gelten lassen, wenn er sich aufrichtig so zu erkennen gäbe; die Idee einer Errichtung des Judenstaates auf religiöser und nationaler Grundlage erscheine ihm wie eine unsinnige Auflehnung gegen den Geist aller geschichtlichen Entwicklung.»Und in der Tiefe Ihrer Seele«, rief er aus, vor Leo stehen bleibend,»glauben auch Sie nicht daran, daß dieses Ziel je zu erreichen sein wird, ja wünschen es nicht einmal, wenn Sie sich auch auf dem Wege hin aus dem oder jenem Grunde behagen. Was ist Ihnen Ihr ›Hei matland‹ Palästina? Ein geographischer Begriff. Was bedeutet Ihnen ›der Glaube Ihrer Väter‹? Eine Sammlung von Gebräuchen, die Sie längst nicht mehr halten und von denen Ihnen die meisten gerade so lächerlich und abgeschmackt vorkommen, als mir.«
Sie redeten noch lang, bald heftig und beinahe feindselig, dann wieder ruhig und in dem ehrlichen Bestreben einander zu überzeugen; fanden sich manchmal wie erstaunt in einer gleichen Ansicht, um einander im nächsten Augenblick in einem neuen Widerspruch zu verlieren. Georg, auf seinen Mantel gestreckt, hörte ihnen zu. Bald neigte sein Sinn sich Leo zu, in dessen Worten ihm ein glühendes Mitleid für seine unglücklichen Stammesgenossen zu beben schien, und der sich stolz von Menschen abkehrte, die ihn als ihresgleichen nicht wollten gelten lassen. Bald wieder war er innerlich Heinrich näher, der sich zornig von einem Beginnen abwandte, das, phantastisch und kurzsichtig zugleich, die Angehörigen einer Rasse, deren Beste überall in der Kultur ihres Wohnlandes aufgegangen waren, oder mindestens an ihr mitarbeiteten, von allen Enden der Welt versammeln und in eine gemeinsame Fremde senden wollte, nach der sie kein Heimweh rief. Und eine Ahnung stieg in Georg auf, wie schwer gerade diesen Besten, von denen Heinrich sprach, denen, in deren Seelen sich die Zukunft der Menschheit vorbereitete, eine Entscheidung fallen mußte; wie gerade ihnen, hin und hergeworfen zwischen der Scheu, zudringlich zu erscheinen und der Erbitterung über die Zumutung, einer frechen Überzahl weichen zu sollen, zwischen dem eingeborenen Bewußtsein, daheim zu sein, wo sie lebten und wirkten, und der Empörung, sich eben da verfolgt und beschimpft zu sehen; wie gerade ihnen zwischen Trotz und Ermattung das Gefühl ihres Daseins, ihres Wertes und ihrer Rechte sich verwirren mußte. Zum erstenmal begann ihm die Bezeichnung Jude, die er selbst so oft leichtfertig, spöttisch und verächtlich im Mund geführt hatte, in einer ganz neuen gleichsam düstern Beleuchtung aufzugehen. Eine Ahnung von dieses Volkes geheimnisvollem Los dämmerte in ihm auf, das sich irgendwie in jedem aussprach, der ihm entsprossen war; nicht minder in jenen, die diesem Ursprung zu entfliehen trachteten wie einer Schmach, einem Leid oder einem Märchen, das sie nichts kümmerte, als in jenen, die mit Hartnäckigkeit auf ihn zurückwiesen, wie auf ein Schicksal, eine Ehre oder eine Tatsache der Geschichte, die unverrückbar feststand.
Und als er sich in den Anblick der beiden Sprechenden verlor und ihre Gestalten betrachtete, die sich mit scharf gezogenen, heftig bewegten Linien von dem rötlich-violetten Himmel abzeichneten, fiel es ihm nicht zum ersten Male auf, daß Heinrich, der dar auf bestand, hier daheim zu sein, in Figur und Geste einem fanatischen, jüdischen Prediger glich, während Leo, der mit seinem Volk nach Palästina ziehen wollte, in Gesichtsschnitt und Haltung ihn an die Bildsäule eines griechischen Jünglings erinnerte, die er einmal im Vatikan oder im Museum von Neapel gesehen hatte. Und wieder einmal, während sein Auge Leos lebhaften und edeln Bewegungen mit Vergnügen folgte, begriff er sehr wohl, daß Anna für den Bruder ihrer Freundin vor Jahren, in jenem Sommer am See, eine schwärmerische Neigung empfunden hatte.
Immer noch standen Heinrich und Leo einander auf der Wiese gegenüber, und ins Unentwirrbare verlor sich ihr Gespräch. Die Sätze stürmten ineinander hinein, verkrampfen sich ineinander, schossen aneinander vorbei, gingen ins Leere; und in irgend einem Augenblick merkte Georg, daß er nur mehr den Klang der Reden hörte, ohne ihrem Inhalt folgen zu können.
Ein kühler Wind kam von der Ebene her, und Georg erhob sich leicht erschauernd vom Rasen. Die andern, die seine Anwesenheit beinahe vergessen hatten, waren dadurch zur Gegenwart zurückgerufen, und man beschloß aufzubrechen. Noch leuchtete der volle Tag über der Landschaft, aber die Sonne ruhte dunkelrot und matt über einer länglich gestreckten Abendwolke.
Während er seinen Mantel aufs Rad schnallte, sagte Heinrich:»Nach solchen Gesprächen bleibt mir immer eine Unbefriedigung, die sich geradezu bis zu einem wehen Gefühl in der Magengegend steigert. Ja wirklich. Sie führen so gar nirgends hin. Und was bedeuten überhaupt politische Ansichten bei Menschen, denen die Politik nicht zugleich Beruf oder Geschäft ist? Nehmen sie den geringsten Einfluß auf die Lebensführung, auf die Gestaltung des Daseins? Sowohl Sie, Leo, als ich, wir beide werden nie etwas anderes tun, nie etwas anderes tun können, als eben das leisten, was uns innerhalb unseres Wesens und unserer Fähigkeiten zu leisten gegeben ist. Sie werden in Ihrem Leben nicht nach Palästina auswandern, selbst wenn der Judenstaat gegründet und Ihnen sofort eine Ministerpräsidenten- oder wenigstens Hofpianistenstelle angetragen würde.«
»O das können Sie nicht wissen«, unterbrach ihn Leo.
»Ich weiß es ganz bestimmt«, sagte Heinrich.»Dafür gesteh ich Ihnen ja auch zu, daß ich mich trotz meiner vollkommenen Gleichgültigkeit gegen jegliche Religionsform nie und nimmer werde taufen lassen, selbst wenn es möglich wäre was ja heute weniger der Fall ist als je durch solch einen Trug antisemitischer Beschränktheit und Schurkerei für alle Zeit zu entrinnen.«
»Hm«, sagte Leo,»aber wenn die Scheiterhaufen wieder angezündet werden…?«
»Für diesen Fall«, entgegnete Heinrich,»dazu verpflichte ich mich hiermit feierlich, werde ich mich vollkommen nach Ihnen richten.«
»O«, wandte Georg ein,»diese Zeiten kommen doch nicht mehr wieder.«
Die andern mußten lachen, daß Georg sie durch diese Worte, wie Heinrich bemerkte, im Namen der gesamten Christenheit über ihre Zukunft zu beruhigen so liebenswürdig wäre.
Sie hatten indessen die Wiese durchquert. Georg und Heinrich schoben ihre Räder auf dem holprigen Karrenweg vorwärts, Leo ihnen zur Seite, in wehendem Mantel, ging auf dem Rasen hin. Alle schwiegen eine ganze Weile, wie ermüdet. Wo der schlechte Weg in die breite Straße mündete, blieb Leo stehen und sagte:»Hier werden wir uns leider trennen müssen.«Er streckte Georg die Hand entgegen und lächelte.»Sie müssen sich heute nicht übel gelangweilt haben«, sagte er.
Georg errötete.»Na hören Sie, Sie halten mich doch für etwas…«
Leo hielt Georgs Hand fest.»Ich halte Sie für einen sehr klugen und auch für einen sehr guten Menschen. Glauben Sie mir das?«
Georg schwieg.
»Ich möchte wissen«, fuhr Leo fort,»ob Sie mir das glauben, Georg, es liegt mir daran.«Sein Ton bekam etwas wahrhaft Herzliches.
»Ja natürlich glaub ich es Ihnen«, erwiderte Georg, noch immer etwas ungeduldig.
»Das freut mich«, sagte Leo,»denn Sie sind mir wirklich sympathisch, Georg.«Er sah ihm tief in die Augen, dann reichte er ihm und Heinrich zum Abschied nochmals die Hand und wandte sich zum Gehen.
Georg aber hatte plötzlich die Empfindung, daß dieser junge Mann, der da mit wehendem Mantel, den Kopf leicht gesenkt, in der Mitte der breiten Straße nach abwärts schritt, gar nicht nach einem»zu Hause«wanderte, sondern irgendwohin in eine Fremde, in die man ihm nicht folgen könnte. Diese Empfindung war ihm selbst umso unbegreiflicher, als er mit Leo in der letzten Zeit nicht nur manche Stunde am Kaffeehaustisch im Gespräch verbracht, sondern auch durch Anna über ihn, seine Familie, seine Lebensumstände allerlei Aufklärendes erfahren hatte. Er wußte, daß jener Sommer am See, der nun mit der jugendlichen Schwärmerei Annas sechs Jahre weit zurücklag, für die Familie Golowski den letzten sorgenlosen bedeutet hatte, und daß das Geschäft des Alten im Winter darauf völlig zugrunde gegangen war. Es sollte nun, nach Annas Erzählung, ganz merkwürdig gewesen sein, wie alle Mitglieder der Familie sich so leicht in die geänderten Verhältnisse fügten, als wären sie seit langem auf diesen Umschwung gefaßt gewesen. Aus der behaglichen Wohnung im Rathausviertel übersiedelte man in eine trübselige Gasse in der Nähe des Augartens. Herr Golowski übernahm Vermittlungsgeschäfte aller Art, Frau Golowski verfertigte Handarbeiten zum Verkauf. Therese gab Unterricht in französischer und englischer Sprache und setzte anfangs den Besuch der Schauspielschule fort. Ein junger Violinspieler aus verarmter, russischer Adelsfamilie war es, der ihr Interesse für politische Fragen erweckte. Bald hatte sie der Kunst abgeschworen, für die sie übrigens stets mehr Neigung als Talent gezeigt hatte, und binnen kurzem stand sie als Rednerin und Agitatorin mitten in der sozialdemokratischen Bewegung. Leo, ohne mit ihren Anschauungen übereinzustimmen, freute sich ihres frischen und verwegenen Wesens. Manchmal besuchte er sogar Versammlungen mit ihr; da er sich aber nicht gern von großen Worten imponieren ließ, weder von Versprechungen, die niemals einzulösen waren, noch von Drohungen, die ins Leere gingen, so machte es ihm Spaß, ihr meist schon auf dem Heimweg mit unwiderleglicher Schärfe die Widersprüche in ihren und der Parteigenossen Reden nachzuweisen. Insbesondere aber versuchte er ihr immer wieder klar zu machen, daß sie nicht, auf Tage und Wochen oft, ihrer großen Aufgabe so vollkommen vergessen könnte, wenn ihr Mitgefühl mit den Armen und Elenden wirklich ein so tiefes wäre, wie sie sich einbildete. Indes, auch Leos Leben ging nach keinem sichern Ziel. Er hörte Vorlesungen an der Technik, gab Klavierlektionen, plante zuweilen sogar eine Virtuosenlaufbahn und übte dann wochenlang fünf bis sechs Stunden täglich. Aber es war noch immer nicht abzusehen, wofür er sich am Ende entscheiden würde. Da es in seiner Art lag, unbewußt auf Wunder zu warten, die ihm Unbequemlichkeiten ersparen konnten, hatte er sein Freiwilligenjahr so lang verschoben, bis der letzte Termin herangerückt war, und diente darum erst jetzt, in seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahre. Die Eltern ließen Leo und Therese gewähren, und so viel Meinungsverschiedenheiten, so wenig ernstlichen Streit schien es im Hause Golowski zu geben. Die Mutter saß meistens daheim, nähte, stickte und häkelte, der Vater ging seinen Geschäften immer saumseliger nach und sah lieber im Kaffeehaus den Schachspielern zu, ein Vergnügen, in dem er den Niedergang seines Daseins zu vergessen vermochte. Seinen Kindern gegenüber schien er seit dem Ruin des Geschäftes eine gewisse Befangenheit nicht los zu werden, so daß er beinahe stolz war, wenn Therese ihm gelegentlich einen von ihr verfaßten Artikel zu lesen gab, oder wenn Leo sich herbeiließ, mit ihm am Sonntag Nachmittag eine Partie auf dem geliebten Brett zu spielen.
Georg kam es manchmal vor, als stünde seine eigene Sympathie für Leo mit jener längst verflossenen Neigung Annas für ihn in einem tiefern Zusammenhang. Denn nicht zum ersten Male fühlte er sich in ganz sonderbarer Weise zu einem Manne hingezogen, dem früher eine Seele zugeflogen war, die jetzt ihm gehörte.
Georg und Heinrich hatten ihre Räder bestiegen und fuhren eine schmale Straße, durch dichten, dunkelnden Wald. Später, da dieser sich wieder zu beiden Seiten zurückschob, hatten sie die sinkende Sonne im Rücken, und die langgestreckten Schatten ihrer eigenen Gestalten auf den Rädern liefen ihnen voraus. Entschiedener senkte sich die Straße und führte bald zwischen niedern Häusern hin, die von rötlichem Laub überhangen waren. Ein uralter Mann saß vor einer Haustür auf einer Bank, zu einem offenen Fenster sah ein bleiches Kind heraus. Sonst war kein menschliches Wesen zu sehen.
»Wie ein verzaubertes Dorf«, sagte Georg.
Heinrich nickte. Er kannte den Ort. Auch hier war er mit der Geliebten gewesen, an einem wundervollen Sommertag dieses Jahres. Er dachte daran, und brennende Sehnsucht zuckte ihm durchs Herz. Und er erinnerte sich der letzten Stunden, die er in Wien mit ihr gemeinsam verbracht hatte, in seinem kühlen Zimmer, mit den herabgelassenen Jalousien, durch deren Spalten der heiße Augustmorgen geflimmert war; des letzten Spazierganges durch steinernkühle sonntagsstille Gassen und durch alte, menschenleere Höfe, und seiner Ahnungslosigkeit, daß all dies zum letzten Male war. Denn am nächsten Tag erst war der Brief gekommen, der furchtbare Brief, in dem es geschrieben stand, daß sie ihm den Schmerz des Abschieds hatte ersparen wollen, und daß sie, wenn er diese Worte läse, längst über die Grenze sei, auf der Fahrt nach der neuen, fremden Stadt.
Die Straße belebte sich. Freundliche Villen erschienen, von kleinen Gärtchen behaglich umgeben; gelinde hinter den Häusern stiegen bewaldete Hügel empor. Noch einmal breitete das Tal sich aus, und der scheidende Tag ruhte über Wiesen und Feldern. In einem großen, leeren Wirtshausgarten waren die Laternen angezündet. Eilige Dämmer schienen von allen Seiten zugleich heranzuschleichen. Nun war die Wegkreuzung da. Georg und Heinrich saßen ab und zündeten sich Zigaretten an.
»Rechts oder links?«fragte Heinrich.
Georg sah auf die Uhr:»Sechs… und ich muß um acht in der Stadt sein.«
»Da können wir also nicht miteinander nachtmahlen?«sagte Heinrich.
»Leider nein.«
»Schade. So fahren wir gleich den kürzeren Weg, über Sievering, hinein.«
Sie zündeten ihre Laternen an und schoben die Räder auf langgestreckten Serpentinen durch den Wald. Der Reihe nach sprang ein Baum nach dem andern aus dem Dunkel in den Schein der Lichtkegel und trat wieder in die Nacht zurück. Stärker rauschte der Wind durchs Laub, und Blätter raschelten nieder. Heinrich fühlte ein ganz leises Grauen, wie es ihn manchmal bei Dunkelheit in der freien Natur überfiel. Daß er den Abend allein verbringen sollte, empfand er wie eine Enttäuschung. Er war verstimmt gegen Georg und ärgerte sich daher auch über dessen Verschlossenheit ihm gegenüber. Er nahm sich nicht zum erstenmal vor, von jetzt an auch über seine eigenen, persönlichen Angelegenheiten nicht mehr mit Georg zu reden. Es war besser so. Er bedurfte niemandes Vertrauen, niemandes Teilnahme. Am wohlsten war ihm doch immer zumute gewesen, wenn er allein seines Weges ging. Das hatte er nun oft genug erfahren. Wozu also einem andern seine Seele erschließen? Ja, Bekannte zu gemeinsamen Spaziergängen und Fahrten, zu kühlen, klugen Gesprächen über allerlei Dinge des Lebens und der Kunst, Frauen um sie flüchtig zu umarmen; doch keines Freundes, keiner Geliebten bedurfte er. So floß das Dasein würdiger und ungestörter hin. Er schwelgte in diesen Vorsätzen, fühlte sich hart und überlegen werden. Die Waldesdunkelheit verlor ihre Schauer, und er wandelte durch die leise rauschende Nacht wie durch ein verwandtes Element.
Die Höhe war bald erreicht. Sternenlos lag der dunkle Himmel über der grauen Straße und über den nebelhauchenden Wiesen, die sich beiderseits in täuschender Weite zu den Waldhügeln dehnten. Vom nahen Mauthäuschen schimmerte ein Licht. Wieder bestiegen sie die Räder und fuhren nun so rasch nach abwärts, als die Dunkelheit es gestattete. Georg wünschte sich bald am Ziel zu sein. Seltsam unwahrscheinlich kam es ihm vor, daß er in anderthalb Stunden schon das stille Zimmer wiedersehen sollte, von dem niemand wußte als Anna und er; den dämmrigen Raum mit den Öldrucken an der Wand, dem blausamtenen Sofa, dem Pianino, auf dem die Photographien unbekannter Leute und eine gipsweiße Schillerbüste standen; mit den hohen, schmalen Fenstern, gegenüber denen die alte, dunkelgraue Kirche ragte.
Laternen brannten längs des Weges. Noch einmal wurde die Straße freier, und ein letzter Blick nach den Höhen öffnete sich. Dann ging es eiligst, zuerst noch zwischen wohlgehaltenen Landhäusern, endlich über eine menschenerfüllte, lärmende Hauptstraße, tiefer in die Stadt hinein. Bei der Votivkirche stiegen sie ab.
»Adieu«, sagte Georg,»und auf Wiedersehen morgen im Kaffeehaus.«
»Ich weiß nicht…«, erwiderte Heinrich; und als Georg ihn fragend ansah, fügte er hinzu:»Es ist möglich, daß ich verreise.«
»O, ein so plötzlicher Entschluß!«
»Ja, es packt einen eben zuweilen…«
»Die Sehnsucht«, ergänzte Georg lächelnd.
»Oder die Angst«, sagte Heinrich und lachte kurz.
»Dazu haben Sie wohl keine Ursache«, meinte Georg.
»Wissen Sie das ganz sicher?«fragte Heinrich hämisch.
»Sie haben mir doch selbst erzählt…«
»Was?«
»Daß Sie jeden Tag Nachricht haben.«
»Ja, das ist schon wahr, jeden Tag. Zärtliche, glühende Briefe bekomme ich. Jeden Tag zur selben Stunde. Aber was beweist das? Ich schreibe ja noch viel glühendere und zärtlichere und doch…«
»Nun ja«, sagte Georg, der ihn verstand. Und er wagte die Frage:»Warum bleiben Sie eigentlich nicht bei ihr?«
Heinrich zuckte die Achseln.»Sagen Sie doch selbst, Georg, käme es Ihnen nicht ein wenig komisch vor, wenn man so einer Liebschaft wegen seine Zelte abbräche, mit einer kleinen Schauspielerin in der Welt herumzöge…«
»Ich persönlich würde es natürlich sehr bedauern… aber ›komisch‹… was sollte daran komisch sein?«
»Nein, ich habe keine Lust dazu«, schloß Heinrich hart.
»Aber wenn Ihnen… wenn Ihnen sehr viel daran gelegen wäre… wenn Sie es direkt verlangten… gäbe die junge Dame nicht vielleicht die Karriere auf?«
»Möglich. Aber ich verlange es nicht. Ich will es nicht verlangen. Nein. Lieber Schmerzen als Verantwortungen.«
»Wäre es denn eine so große Verantwortung?«fragte Georg.»Ich meine nämlich… ist das Talent der jungen Dame so hervorragend, hängt sie überhaupt so sehr an ihrer Kunst, daß es ihr ein Opfer wäre, wenn sie die Sache aufgäbe?«
»Ob sie Talent hat?«sagte Heinrich,»ja das weiß ich selbst nicht. Ich glaube sogar, sie ist das einzige Geschöpf auf der ganzen Welt, über dessen Talent ich mir ein Urteil nicht zutraue. So oft ich sie auf der Bühne gesehen habe, hat mir ihre Stimme geklungen wie die einer Unbekannten und gleichsam ferner als alle andern Stimmen. Es ist wirklich ganz merkwürdig… Aber Sie haben sie ja auch spielen gesehen, Georg. Was hatten Sie für einen Eindruck? Sagen Sie es mir ganz aufrichtig.«
»Ja, offen gestanden… ich erinnere mich nicht recht an sie. Sie entschuldigen, ich wußte ja damals noch nicht… Wenn Sie von ihr reden, da seh ich immer so einen rotblonden Schopf vor mir, der ein bißchen in die Stirne fällt, und in einem kleinen, blassen Gesicht sehr große, schwarze, herumirrende Augen.«
»Ja, irrende Augen«, wiederholte Heinrich, biß sich auf die Lippen und schwieg eine Weile.»Leben Sie wohl«, sagte er dann plötzlich.
»Sie schreiben mir doch?«fragte Georg.
»Ja natürlich. Und übrigens komm ich wohl einmal wieder«, setzte er hinzu und lächelte starr.
»Glückliche Reise«, sagte Georg, reichte ihm die Hand und drückte sie mit besonderer Herzlichkeit. Das tat Heinrich wohl. Dieser warme Händedruck gab ihm plötzlich nicht nur die Sicherheit, daß Georg ihn nicht lächerlich fand, sondern merkwürdigerweise auch die, daß die ferne Geliebte ihm treu und daß er selbst ein Mensch sei, dem mehr erlaubt war als manchem andern.
Georg sah ihm nach, wie er auf seinem Rad eiligst davonfuhr. Wieder, wie vor wenigen Stunden bei Leos Abschied, hatte er die Empfindung, als entschwände ihm einer in ein unbekanntes Land; und in diesem Augenblick wußte er, daß er mit keinem von den beiden bei aller Sympathie jemals zu einer unbefangenen Vertrautheit gelangen werde, wie sie ihn noch im vorigen Jahre mit Guido Schönstein und vorher mit dem armen Labinski verbunden hatte. Er dachte darüber nach, ob das vielleicht in dem Rassenunterschied zwischen ihm und jenen begründet sein mochte und fragte sich, ob er, ohne das Gespräch der beiden, durch das eigene Gefühl dieser Fremdheit sich so deutlich bewußt geworden wäre. Er zweifelte daran. Fühlte er sich nicht gerade diesen beiden und manchen andern ihres Volkes näher, ja verwandter, als vielen Menschen, die mit ihm vom gleichen Stamme waren? Ja spürte er nicht ganz deutlich, daß manchmal irgendwo in die Tiefe zwischen ihm und diesen beiden stärkere Fäden liefen, als von ihm zu Guido, ja vielleicht zu seinem eigenen Bruder? Aber wenn es so war, hätte er das nicht diesen beiden Menschen heute Nachmittag in irgendeinem Augenblick sagen müssen? Ihnen zurufen: vertraut mir doch, schließt mich nicht aus. Versucht es doch, mich für einen Freund zu halten!… Und als er sich fragte, warum er das nicht getan und an ihrem Gespräch kaum teilgenommen hatte, da ward er mit Verwunderung inne, daß er während dessen ganzer Dauer eine Art von Schuldbewußtsein nicht los geworden war, gerade so als wäre auch er sein Lebenlang von einer gewissen leichtfertigen und durch persönliche Erfahrung gar nicht gerechtfertigten Feindseligkeit gegen die»Fremden«, wie Leo selbst sie nannte, nicht frei gewesen und so sein Teil zu dem Mißtrauen und dem Trotz beigetragen, mit dem so manche sich vor ihm verschlossen, denen entgegenzukommen er selbst Anlaß und Neigung fühlen mochte. Dieser Gedanke erregte ihm ein wachsendes Unbehagen, das er sich nicht recht deuten konnte, und das nichts andres war, als die dumpfe Einsicht, daß reine Beziehungen auch zwischen einzelnen reinen Menschen in einer Atmosphäre von Torheit, Unrecht und Unaufrichtigkeit nicht gedeihen können.
Immer schneller, als gälte es diesem Unbehagen zu entfliehen, fuhr er heimwärts. Zu Hause angekommen, kleidete er sich rasch um, damit Anna nicht allzulange warten müsse. Er sehnte sich nach ihr wie noch nie. Es war ihm, als käme er von einer weiten Reise heim, zu dem einzigen Wesen, das ihm ganz gehörte.
Viertes Kapitel
Georg stand am Fenster. Gerade darunter wölbten sich die steinernen Rücken der bärtigen Riesen, die auf gewaltigen Armen das verwitterte Adelswappen eines längst versunkenen Geschlechtes trugen. Gegenüber, aus dem Dunkel uralter Häuser hervor, kam die Stiege geschlichen, bis vor das Tor der grauen Kirche, die im Flockenfall wie hinter einem wallenden Vorhang verdämmerte. Das Licht einer Straßenlaterne auf dem Platz schimmerte blaß durch den sinkenden Tag. Noch stiller an diesem Feiernachmittag als sonst ruhte unten die beschneite Straße, die mitten in der Stadt und doch abseits von allem Treiben hinzog. Und wieder einmal, wie stets, wenn er die breite Treppe des alten zum Mietshaus gewordenen Palastes emporgestiegen und in das geräumige, niedrig gewölbte Zimmer getreten war, fühlte Georg, seiner gewohnten Welt entronnen, sich wie zum andern Teile eines wundersamen Doppeldaseins eingegangen.
Er hörte einen Schlüssel in der Türe knirschen und wandte sich um. Anna trat ein. Georg schloß sie beglückt in die Arme und küßte sie auf Stirn und Mund. Die dunkelblaue Jacke, der breitrandige Hut, die Pelzboa, alles war ganz beschneit.
»Du hast ja gearbeitet«, sagte Anna, während sie ablegte, und wies auf den Tisch, wo neben der grünbeschirmten Lampe beschriebene Notenblätter lagen.
»Das Quintett hab ich mir durchgesehen, den ersten Satz. Es ist doch noch manches daran zu machen.«
»Aber dann wird's wunderschön sein.«
»Das wollen wir hoffen. Kommst du von Hause, Anna?«
»Nein, von Bittners.«
»Wie, heut am Feiertag?«
»Ja. Die zwei Mädeln haben durch die Masern viel versäumt, das muß nachgeholt werden. Ist mir übrigens sehr angenehm, schon aus finanziellen Gründen.«
»Die Riesensumme!«
»Und dann entgeht man wenigstens auf ein paar Stunden dem ›trauten Heim‹.«
»Na ja«, sagte Georg, legte Annas Boa über eine Sessellehne und strich zerstreut mit den Fingern über das Pelzwerk hin. Annas Bemerkung, aus der es, und nicht zum erstenmal, wie ein leiser Vorwurf gegen ihn herausklang, hatte ihn nicht angenehm berührt. Sie setzte sich auf den Diwan, führte die Hände an die Schläfen, strich leicht über das dunkelblonde, gewellte Haar nach rückwärts und blickte Georg lächelnd an. Er, beide Hände in den Saccotaschen, stand an die Kommode gelehnt und begann von dem gestrigen Abend zu erzählen, den er mit Guido und der Violinspielerin verbracht hatte. Seit einigen Wochen nahm die junge Dame, auf des Grafen Wunsch, bei dem Beichtvater einer Erzherzogin katholischen Religionsunterricht; sie ihrerseits hielt Guido an, Nietzsche und Ibsen zu lesen. Doch war als Resultat dieses Studiums, nach Georgs Bericht, bisher nichts anderes zu verzeichnen, als daß der junge Graf seine Geliebte nach jener wunderlichen Gestalt aus»Klein Eyolf«scherzhafterweise Rattenmamsell zu nennen pflegte.
Anna wußte über den gestrigen Abend wenig Heiteres mitzuteilen. Sie hatten Besuch gehabt.»Zuerst«, erzählte Anna,»die zwei Cousinen von Mama, dann ein Bureaukollege von Papa zum Tarokspielen. Auch Josef hat sich der Häuslichkeit ergeben, ist auf dem Diwan gelegen von drei bis fünf, dann ist sein neuester Spezi gekommen, Herr Jalaudek, der mir erheblich den Hof gemacht hat.«
»So, so.«
»Er war berückend. Ich sage nur: eine violette Krawatte mit gelben Tupfen, da kannst du dich verstecken. Übrigens hat er mir den ehrenvollen Antrag überbracht, in einer sogenannten Akademie beim ›wilden Mann‹, zugunsten des Währinger Kirchenbauvereins mitzuwirken.«
»Du hast natürlich zugesagt.«
»Ich habe mich mit meinem Mangel an Stimme und an Frömmigkeit entschuldigt.«
»Na was die Stimme anbelangt…«
Sie unterbrach ihn.»Nein, Georg«, sagte sie leicht,»die Hoffnung hab ich endgültig aufgegeben.«
Er sah sie an und suchte in ihrem Blick, der aber klar und frei blieb. Leise und dumpf klang die Orgel aus der Kirche herüber.
»Ja richtig«, sagte Georg,»das Billett für morgen zu ›Carmen‹ hab ich dir mitgebracht.«
»Dank schön«, erwiderte sie und nahm die Karte entgegen.»Gehst du auch?«
»Ja. Ich hab eine Loge im dritten Stock und lad mir den Bermann ein. Die Partitur nehm ich mir mit, wie neulich zu Lohengrin und üb' mich wieder im Dirigieren. Im Hintergrund natürlich. Du kannst dir nicht vorstellen, was man dabei lernt. Ich möcht dir übrigens was vorschlagen«, setzte er zögernd hinzu.»Willst du nicht nach dem Theater mit mir und Bermann nachtmahlen gehen?«
Sie schwieg.
Er fuhr fort.»Es wäre mir wirklich angenehm, wenn du ihn näher kennen lerntest. Er ist bei allen seinen Fehlern ein interessanter Mensch und…«
»Ich bin keine Rattenmamsell«, unterbrach sie ihn scharf und hatte gleich ihr bürgerlich strenges Gesicht. Georg verzog die Mundwinkel.»Das trifft mich nicht, liebes Kind, ich unterscheide mich auch in mancher Beziehung von Guido. Aber wie du willst.«Er ging im Zimmer hin und her, sie blieb auf dem Diwan sitzen.»Du gehst also heute Abend zu Ehrenbergs?«fragte sie dann.
»Du weißt ja. Ich habe schon zweimal abgesagt in der letzten Zeit. Ich konnte diesmal nicht recht…
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Georg. Ich bin auch geladen.«
»Wo denn?«
»Auch bei Ehrenbergs.«
»Wirklich«, rief er unwillkürlich aus.
»Was wundert dich denn dran so sehr?«fragte sie spitz.»Offenbar wissen sie dort noch nicht, daß man mit mir nicht mehr verkehren kann.«
»Aber Anna, was hast du denn heut? warum bist du denn gar so empfindlich? Selbst wenn man wüßte… glaubst du, das würde die Leute hindern, dich einzuladen? Im Gegenteil. Ich bin überzeugt, Frau Ehrenberg bekäme geradezu Respekt vor dir.«
»Und klein Elschen würde mich vielleicht gar beneiden. Glaubst du nicht? Sie hat mir übrigens ganz nett geschrieben. Da ist ihr Brief, willst du ihn lesen?«Georg flog ihn durch, fand ihn von etwas absichtlicher Liebenswürdigkeit, äußerte sich nicht weiter und gab ihn Anna wieder.
»Da ist übrigens noch einer«, sagte Anna,»wenn er dich interessieren sollte.«
»Von Doktor Stauber? So? Wär es ihm recht, wenn er wüßte, daß ich ihn zu lesen bekomme?«
»Was bist du denn plötzlich so rücksichtsvoll?«Und wie strafend fügte sie hinzu:»Es wär ihm wahrscheinlich manches nicht recht.«
Georg las den Brief rasch für sich durch. In trockener, zuweilen etwas humoristisch gefärbter Art berichtete Berthold vom Fortgang seiner Arbeiten im Pasteurschen Institut, von Spaziergängen, Ausflügen und Theaterbesuchen und ließ es auch an Bemerkungen allgemeinem Charakters nicht fehlen; doch enthielt der Brief auf seinen acht Seiten keinerlei Anspielung auf Vergangenheit oder Zukunft. Georg fragte beiläufig:»Wie lang bleibt er denn noch in Paris?«
»Wie du siehst, schreibt er noch kein Wort vom Zurückkommen.«
»Deine Freundin Therese erwähnte neulich, daß seine Parteigenossen ihn gerne wieder hier haben möchten.«
»Ah, ist sie wieder im Kaffeehaus gewesen?«
»Ja. Vor zwei oder drei Tagen hab ich sie dort gesprochen. Ich amüsier mich wirklich sehr über sie.«
»So?«
»Anfangs ist sie nämlich immer sehr hochmütig, auch mit mir. Offenbar, weil ich auch mein Leben so mit Kunst und ähnlichen Dummheiten vertrödle, während es doch so viele wichtigere Dinge auf der Welt zu tun gibt. Aber wenn sie ein bissel wärmer wird, dann kommt's heraus, daß sie sich für alle möglichen Dummheiten geradeso interessiert, wie wir gewöhnlichen Menschen.«
»Sie wird leicht warm«, sagte Anna unbeweglich.
Georg ging auf und ab und sprach weiter.»Köstlich war sie ja neulich beim Fechtturnier im Musikvereinssaal. Wer war übrigens der Herr, mit dem sie oben auf der Galerie gesessen ist?«
Anna zuckte die Achseln.»Ich hatte nicht den Vorzug, dem Turnier beizuwohnen. Und übrigens kenn ich die Begleiter Theresiens nicht alle.«
»Ich nehme an«, sagte Georg,»es war ein Genosse, in jeder Beziehung. Sehr düster und ziemlich schlecht angezogen war er jedenfalls. Wie Therese nach Felicians Sieg applaudiert hat, hat er sich vor Eifersucht geradezu zusammengerollt.«
»Was hat dir Therese eigentlich von Doktor Berthold erzählt?«fragte Anna.
»O«, scherzte Georg,»man interessiert sich ja noch sehr lebhaft, wie es scheint.«
Anna antwortete nicht.
»Also«, berichtete Georg,»ich kann dir die Mitteilung machen, daß man ihn im Herbst für den Landtag kandidieren will, was ich übrigens sehr begreiflich finde, mit Rücksicht auf seine glänzenden Rednergaben.«
»Was weißt denn du! Hast du ihn schon sprechen gehört?«
»Natürlich, erinnerst du dich denn nicht! In Eurer Wohnung!«
»Du hast's wirklich nicht notwendig, dich über ihn lustig zu machen.«
»Aber das fällt mir ja gar nicht ein.«
»Ich hab's ja gleich bemerkt, er ist dir damals ein bißchen komisch vorgekommen. Er, und sein Vater auch. Du hast ja geradezu die Flucht ergriffen vor ihnen.«
»Ganz und gar nicht, Anna. Du tust sehr unrecht, mir solche Dinge zu insinuieren.«
»Sie mögen ja ihre Schwächen haben, beide, aber sie gehören wenigstens zu den Menschen, auf die man sich verlassen kann. Das ist auch etwas.«
»Hab ich das bestritten, Anna? Wahrhaftig, niemals hab ich dich so unlogisch reden gehört. Was willst du denn eigentlich von mir? Hätt ich vielleicht eifersüchtig werden sollen wegen dieses Briefes?«
»Eifersüchtig? Das fehlte noch, du mit deiner Vergangenheit.«
Georg zuckte die Achseln. In seinem Geist tauchten Erinnerungen auf, an ähnliche Wortzwiste im Verlaufe früherer Beziehungen, an jene plötzlichen rätselhaften Uneinigkeiten und Entfremdungen, die meist nichts anderes zu bedeuten gehabt hatten, als den Anfang vom Ende. Sollte er mit seiner klugen, guten Anna heute wirklich schon so weit sein? Verstimmt, beinahe traurig ging er im Zimmer auf und ab. Zuweilen warf er einen flüchtigen Blick nach der Geliebten, die schweigend in ihrer Diwanecke saß und leicht die Hände aneinanderrieb, als wäre ihr kalt. In das Schweigen des mit einmal trübselig gewordenen Raums klang die Orgel schwerer als zuvor, singende Menschenstimmen wurden vernehmbar, und die Fensterscheiben klirrten leise. Georgs Blick fiel auf den kleinen Weihnachtsbaum, der auf der Kommode stand und dessen Kerzen vorgestern Abend für ihn und Anna gebrannt hatten. Halb gelangweilt, halb zerstreut nahm er Zündhölzchen aus der Tasche und begann die kleinen Kerzen eine nach der andern anzuzünden. Da klang plötzlich Annas Stimme zu ihm her:»In einer ernsten Sache«, sagte sie langsam,»würde ich mich doch keinem andern anvertrauen, als dem alten Doktor Stauber.«
Befremdet wandte sich Georg nach ihr um, und blies ein brennendes Zündhölzchen aus, das er noch in der Hand hielt. Er wußte sofort, was Anna meinte, wunderte sich, daß er seit dem letzten Zusammensein selbst nicht mehr daran gedacht hatte, trat zu ihr hin und faßte ihre Hand. Nun erst schaute sie auf, undurchdringlich, mit bewegungslosen Zügen.
»Du Anna sag doch…«, er setzte sich an ihre Seite auf den Diwan, ihre beiden Hände in den seinen.
Sie schwieg.
»Warum redest du nicht?«
Sie zuckte die Achseln.»Es ist eben gar nichts Neues zu berichten«, erklärte sie dann einfach.
»So«, sagte er langsam. Es ging ihm durch den Sinn, ob nicht ihre heutige sonderbare Gereiztheit schon als ein Anzeichen des Zustandes zu deuten war, auf den sie anspielte, und Unruhe stieg in seiner Seele auf.»Aber sicher ist die Sache deswegen noch lange nicht«, sagte er in etwas kühlerm Tone, als er eigentlich wollte.»Und… und wenn auch «, setzte er mit gekünstelter Lebhaftigkeit hinzu.
»Also du würdest mir verzeihen?«fragte sie lächelnd.
Er drückte sie an sich und war plötzlich ganz aufgeräumt. Eine lebhafte, etwas gerührte Zärtlichkeit flammte in ihm auf für das sanfte, gute Geschöpf, das er in den Armen hielt, und von dem ihm, er fühlte es tief, niemals ein ernstliches Leid kommen konnte.»Es wäre wahrhaftig nicht so schlimm«, sagte er heiter.»Du würdest eben Wien für einige Zeit verlassen, das ist alles.«
»Na, gar so einfach wär das allerdings nicht, wie du dir's plötzlich vorzustellen scheinst.«
»Warum nicht? Eine Ausrede ist bald gefunden. Im übrigen, wen geht's denn an? Uns zwei. Niemanden andern. Und was mich anbelangt, so weißt du, ich kann jeden Tag fort. Kann auch ausbleiben, so lange ich will. Ich habe noch nicht einmal einen Kontrakt fürs nächste Jahr unterschrieben«, setzte er lächelnd hinzu. Dann erhob er sich, um die Wachskerzchen auszulöschen, deren kleine Flammen beinahe ganz heruntergebrannt waren; und immer lebhafter sprach er weiter.»Es wäre sogar wunderschön. Denk doch, Anna! Ende Februar, oder anfangs März würden wir abreisen, in den Süden natürlich, nach Italien, ans Meer vielleicht. Würden an irgendeinem stillen Ort wohnen, wo kein Mensch uns kennt, in einem schönen Hotel mit einem Riesenpark. Und arbeiten könnt man da unten, Donnerwetter!«
»Also darum!«sagte sie, wie in plötzlichem Verstehen. Er lachte, nahm sie fester in seine Arme, und sie drängte sich an seine Brust. Von draußen kam kein Laut mehr. Orgel und Menschenstimmen waren verklungen. Vor den Fenstern schwebte der Schneevorhang nieder… Georg und Anna waren glücklich wie niemals zuvor.
Während sie im Dunkel ruhten, sprach er von seinen musikalischen Plänen für die nächste Zeit und erzählte ihr Heinrichs Opernstoff, soweit er es vermochte. Mit schimmernden Schatten füllte sich der Raum. Einen märchenhaften Königssaal durchrauschte ein Hochzeitsfest. Ein leidenschaftlicher Jüngling schlich sich ein und zückte seinen Dolch auf den Fürsten. Ein dunkles Urteil, geheimnisvoller als der Tod, wurde verkündet. Auf dämmernder Flut trieb ein träges Schiff unbekannten Zielen entgegen. Zu Füßen des Jünglings ruhte eine Prinzessin, die eines Herzogs Braut gewesen. Ein Unbekannter nahte auf leuchtendem Kahn mit seltsamer Botschaft; Narren, Sterngucker, Tänzerinnen, Höflinge schwebten vorbei. Schweigend hatte Anna gelauscht. Am Ende war Georg neugierig zu erfahren, was für einen Eindruck sie von den flüchtigen Bildern empfangen hätte.
»Ich kann's nicht recht sagen«, erwiderte sie.»Jedenfalls ist es mir heut noch ganz rätselhaft, wie aus dem ziemlich wirren Zeug jemals irgendwas Wirkliches werden soll.«
»Natürlich kannst du dir das heute noch nicht vorstellen besonders nach meiner Erzählung… Aber den musikalischen Hauch, der aus der Geschichte herausweht, den spürst du doch, nicht wahr? Ich hab mir sogar schon ein paar Motive aufnotiert, und ich möchte sehr gern, daß Bermann sich bald ernstlich an die Arbeit machte.«
»An deiner Stelle, Georg… ich darf doch was sagen?«
»Natürlich, red nur.«
»Also ich an deiner Stelle würde doch zuerst einmal das Quintett abschließen. Es kann ja jetzt nicht mehr viel dran fehlen.«
»Viel nicht und doch… Übrigens darfst du nicht vergessen, daß ich in der letzten Zeit allerlei anderes angefangen habe. Die zwei Klavierstücke, dann das Orchesterscherzo das ist sogar ziemlich weit gediehn. Aber es gehört unbedingt in eine Symphonie.«
Anna erwiderte nichts. Georg merkte, daß ihre Gedanken abschweiften, und er fragte sie, wohin sie ihm denn schon wieder entrückt sei.
»Nicht gar so weit«, entgegnete sie.»Mir ist nur so durch den Kopf gegangen, was alles geschehen sein kann, bis die Oper einmal wirklich fertig sein wird.«
»Ja«, sagte Georg langsam, beinahe etwas befangen,»wenn man so in die Zukunft blicken könnte.«
Sie seufzte ganz leise, und er drängte sich näher an sie, fast mitleidig.»Sei ruhig, mein Schatz, sei ruhig«, sagte er,»ich bin ja da… und ich werde immer da sein.«Er glaubte zu fühlen, wie sie dachte: Kann er nichts Besseres sagen?… nichts Stärkeres? nichts, das alle Angst, und das sie für immer von mir nähme? Und unaufrichtig, wie mit dem Gedanken sich in eine Gefahr zu begeben, fragte er sie:»Woran denkst du?«Und noch einmal, als sie beharrlich schwieg:»Anna, woran denkst du denn?«
»An etwas sehr Sonderbares«, erwiderte sie leise.
»Woran?«
»Daß das Haus schon steht, wo es zur Welt kommen wird, und wir haben keine Ahnung wo… daran hab ich denken müssen.«
»Daran«, sagte er seltsam berührt. Und mit neu aufflammender Zärtlichkeit sie an sein Herz pressend:»Ich werde euch nie verlassen, euch beide…«
Als es wieder licht im Zimmer wurde, waren sie sehr vergnügt, pflückten von den Ästen des kleinen Weihnachtsbaumes die letzten vergessenen Zuckersachen, freuten sich auf das Wiedersehen unter lauter gleichgültigen Menschen, das ihnen bevorstand, wie auf ein heiteres Abenteuer, lachten und redeten lustigen Unsinn.
Sobald Anna fortgegangen war, versperrte Georg die Notenblätter in der Tischlade, löschte die Lampe aus und öffnete ein Fenster. Leicht und dünn fiel der Schnee. Über die Stiege aus dem Dunkel kam ein alter Mann, und sein mühseliges Atmen tönte durch die unbewegte Luft herauf. Grau ragte die stumme Kirche gegenüber… Georg blieb eine Weile am Fenster stehen. Er war in diesem Augenblick beinahe überzeugt, daß Anna sich in ihrer Annahme täuschte. Wie eine Beruhigung fiel ihm jene Äußerung Leo Golowskis ein, daß Anna bestimmt wäre im Bürgerlichen zu enden. Wahrhaftig es konnte nicht in der»Linie ihres Schicksals«liegen, von einem Liebhaber ein Kind zu bekommen. Und nicht in der Linie des seinen lag es, Verpflichtungen ernster Art zu tragen, heute schon und vielleicht für alle Zeit an ein weibliches Wesen festgebunden zu sein; Vater zu werden in so jungen Jahren. Vater!… Schwer, beinahe düster sank das Wort in seine Seele.
Um acht Uhr abends trat er in den Ehrenbergschen Salon. Walzerklänge tönten ihm entgegen. Am Klavier saß der alte Eißler, dem der lange graue Vollbart fast bis auf die Tasten herabsank. Georg, der, um nicht zu stören, am Eingang stehenblieb, wurde von allen Seiten durch Blicke begrüßt. Der alte Eißler spielte mit weichem Anschlag und kräftigem Rhythmus seine berühmten Wiener Tänze und Lieder, und Georg hatte wie immer viel Freude an den süßen, wiegenden Melodien.
»Herrlich«, sagte Frau Ehrenberg, als der Alte sich erhob.
»Bewahren Sie sich die großen Worte für größere Gelegenheiten, Leonie«, erwiderte Eißler, dessen altes Vorrecht es war, alle Frauen und Mädchen bei ihren Vornamen zu nennen. Und es schien jeder wohl zu tun, ihn von diesem schönen alten Mann, mit der tiefen, klingenden Stimme aussprechen zu hören, in der es manchmal bebte wie ein sentimentales Echo aus bewegten Jugendtagen. Georg fragte ihn, ob alle seine Kompositionen im Druck erschienen wären.
»Die wenigsten, lieber Baron; ich selbst kann leider keine Noten schreiben.«
»Es wäre aber wirklich jammerschade, wenn diese charmanten Melodien ganz verloren gehen sollten.«
»Ja, das hab ich ihm auch oft gesagt«, nahm Frau Ehrenberg das Wort.»Aber er gehört leider zu den Menschen, die sich selber nie ganz ernst genommen haben.«
»O, das ist ein Irrtum, Leonie. Wissen Sie denn, wie ich meine musikalische Karriere begonnen habe? Eine große Oper hab ich komponieren wollen. Allerdings war ich damals siebzehn Jahre alt und in eine Sängerin rasend verliebt.«
Die Stimme der Frau Oberberger tönte vom Tische in der Ecke her:»Es wird eine Choristin gewesen sein.«
»Sie irren sich, Katharina«, erwiderte Eißler.»Choristinnen waren nie mein Fall. Es war sogar eine platonische Liebe, wie die meisten großen Leidenschaften meines Lebens.«
»Waren Sie so ungeschickt?«fragte Frau Oberberger.
»Manchmal wohl auch das«, erwiderte Eißler sonor und mit Anstand;»denn wahrscheinlich hätte ich gerade soviel Glück haben können wie ein Husarenrittmeister. Aber ich bedaure es nicht, ungeschickt gewesen zu sein. Ungetrübte Erinnerungen bewahren wir doch nur an versäumte Gelegenheiten.«
Frau Ehrenberg nickte beifällig.
»Man dürfte also nicht fehlgehen, Herr Eißler«, bemerkte Nürnberger,»wenn man in Ihrer Lebensgeschichte den getrübten Erinnerungen die größere Rolle zuweist.«Wieder nickte Frau Ehrenberg. Sie war entzückt, wenn man in ihrem Salon geistreich war.
»Warum sagten Sie«, fragte Frau Oberberger,»Sie hätten so viel Glück haben können wie ein Husarenrittmeister? Es ist gar nicht wahr, daß Offiziere besonders viel Glück bei den Frauen haben. Wenn meine Schwägerin auch einmal ein Verhältnis mit einem Oberleutnant gehabt hat…«
»Ich glaube nicht an platonische Liebe«, sagte Sissy und leuchtete durch den Saal.
Frau Wyner schrie leise auf.
»Fräulein Sissy hat wahrscheinlich recht«, sagte Nürnberger.»Wenigstens bin ich überzeugt, daß die meisten Frauen platonische Liebe entweder als Beleidigung auffassen oder als Ausrede.«
»Es sind junge Mädchen da«, erinnerte Frau Ehrenberg mild.
»Das merkt man schon daraus«, sagte Nürnberger,»daß sie mitreden.«
»Trotzdem möchte ich mir erlauben, zu dem Kapitel platonische Liebe eine kleine Anekdote zu erzählen«, sagte Heinrich.
»Nur keine jüdische«, warf Else ein.
»Gewiß nicht. Hören Sie nur. Ein kleines blondes Mädel…«
»Das beweist nichts«, unterbrach Else.
»Laß doch zu Ende erzählen,«mahnte Frau Ehrenberg.
»Also: ein kleines, blondes Mädel«, begann Heinrich von neuem,»hat einmal, im Gegensatz zu Fräulein Sissy, mir gegenüber die Überzeugung ausgesprochen, daß platonische Liebe tatsächlich existiere. Und wissen Sie, was sie mir als Beweis dafür angeführt hat…? Ein eigenes Erlebnis. Sie hat nämlich einmal eine Stunde, wie sie mir erzählte, ganz allein in einem Zimmer mit einem Leutnant verbracht und…«
»Es ist genug«, rief Frau Ehrenberg angstvoll.
»Und«, schloß Heinrich unbeirrt und beruhigend,»es ist in dieser Stunde nicht das geringste vorgefallen.«
»Sagt das blonde Mädel«, ergänzte Else.
Die Tür öffnete sich, Georg sah eine fremde Dame eintreten, in einem hellblauen, viereckig ausgeschnittenen Kleid, blaß, einfach und vornehm. Erst als sie lächelte, ward ihm bewußt, daß die Dame Anna Rosner war, und er empfand irgend etwas wie Stolz auf sie. Als er der Geliebten die Hand reichte, fühlte er den Blick Elses auf sich gerichtet.
Man begab sich ins Nebenzimmer, wo der Tisch mit bescheidener Festlichkeit gedeckt war. Der Sohn des Hauses fehlte. Er befand sich in Neuhaus, in der väterlichen Fabrik. Herr Ehrenberg selbst aber saß plötzlich bei Tisch, als das Souper aufgetragen war. Erst kürzlich war er von seiner Reise heimgekehrt, die ihn tatsächlich bis Palästina geführt hatte. Als er von Hofrat Wilt nach seinen Erlebnissen gefragt wurde, wollte er zuerst nicht recht mit der Sprache heraus. Endlich ergab sich, daß ihn die Landschaft enttäuscht, die Strapazen der Reisen verstimmt, und daß er von den jüdischen Ansiedlungen, die sicherm Vernehmen nach im Entstehen waren, so gut wie nichts gesehen hatte.»Also wir haben begründete Hoffnung«, bemerkte Nürnberger,»Sie hier zu behalten, selbst für den Fall, daß der Judenstaat im Laufe der nächsten Zeit gegründet werden sollte?«
Unwirsch erwiderte Ehrenberg:»Hab ich Ihnen je gesagt, daß ich die Absicht habe auszuwandern? Ich bin zu alt dazu.«
»Ach so«, sagte Nürnberger,»ich wußte nicht, daß Sie sich die Gegend drüben nur Fräulein Else und Herrn Oskar zuliebe angesehen haben.«
»Lieber Nürnberger, ich werd mich da nicht mit Ihnen streiten. Der Zionismus ist auch wahrhaftig zu gut für ein Tischgespräch.«
»Ob zu gut«, sagte Hofrat Wilt,»wollen wir dahingestellt sein lassen, jedenfalls zu kompliziert, schon darum weil jeder was anderes darunter versteht.«
»Oder verstehen will«, fügte Nürnberger hinzu,»wie es übrigens mit den meisten Schlagworten und nicht nur in der Politik der Fall ist. Darum wird ja auf Erden so viel geschwätzt.«
Heinrich erklärte, daß ihm unter allen menschlichen Geschöpfen der Politiker gewissermaßen die rätselhafteste Erscheinung bedeute.»Ich begreife Taschendiebe«, sagte er,»Akrobaten, Bankdirektoren, Hoteliers, Könige… das heißt, ohne besondere Mühe gelingt es mir, mich in die Seelen aller dieser Leute hineinzuversetzen. Daraus folgt offenbar, daß es nur gewisser quantitativer, wenn auch ungeheurer Veränderungen meines Wesens bedürfte, um mich zu befähigen, in der Welt eine Akrobaten-, eine Königs-, eine Bankdirektorsrolle zu spielen. Dagegen fühl ich untrüglich: ich könnte mein Wesen ins Ungemessene steigern, und es würde doch nie das aus mir, was man einen Politiker nennt: ein Parteiführer, ein Genosse, ein Minister.«
Nürnberger lächelte über die Auffassung Heinrichs, nach der der Politiker eine besondere Menschenart bedeuten sollte, während es doch nur zu den äußern, nicht einmal unumgänglichen Erfordernissen seines Berufes gehörte, sich als besondere Menschenart aufzuspielen, seine Größe oder seine Nichtigkeit, seine Taten oder seine Trägheit hinter Titeln, Abstrakten, Symbolen zu verstecken. Was die Unbeträchtlichen oder Schwindelhaften unter ihnen vorstellten, das lag ja auf der Hand: es waren einfach Geschäftsleute, oder Hochstapler, oder Schönredner. Die Bedeutenden aber, die Tätigen, die Genialen ganz gewiß, die waren in der Tiefe ihrer Seele nichts anderes als Künstler. Auch sie versuchten ein Werk zu schaffen und eines, das in der Idee geradeso Anspruch auf Unvergänglichkeit und Endgültigkeit erhob, wie irgendein anderes Kunstwerk. Nur, daß eben das Material, aus dem sie bildeten, kein starres, kein relativ bleibendes war, wie Töne oder Worte sind, sondern daß es nach lebendiger Menschen Art, sich ununterbrochen in Fluß und Bewegung befand.
Willy Eißler erschien, entschuldigte sich bei der Hausfrau, daß er sich verspätet hatte, nahm zwischen Sissy und Frau Oberberger Platz und grüßte seinen Vater wie einen lieben, alten Freund nach langer Trennung. Es stellte sich heraus, daß die beiden, trotzdem sie zusammen wohnten, sich seit mehreren Tagen nicht gesehen hatten. Willy erhielt Komplimente zu seinem Erfolg in der Aristokratenvorstellung, wo er mit der Gräfin Liebenberg-Rathony in einem französischen Proverbe einen Marquis gespielt hatte. Frau Oberberger fragte ihn, immerhin laut genug, daß es die Nächstsitzenden verstehen konnten, wo seine Rendezvous mit der Gräfin stattfänden und ob er sie im gleichen Absteigquartier empfinge wie seine bürgerlichen Flammen. Die Unterhaltung wurde lebhafter, Gespräche gingen hin und her und verschlangen sich da und dort. Georg aber fing abgerissene Worte auf, auch aus einer Unterhaltung zwischen Anna und Heinrich, in der von Therese Golowski die Rede war. Dabei sah er, wie Anna zuweilen einen neugierig dunkeln Blick zu Demeter Stanzides herüberwarf, der heute im Frack mit einer Gardenia im Knopfloch erschienen war; und ohne eigentliche Eifersucht zu verspüren, fühlte er sich sonderbar bewegt. Ob sie in diesem Augenblick wohl daran dachte, daß sie vielleicht ein Kind von ihm unter dem Herzen trug?»Die Untiefen…«fiel ihm wieder ein. Plötzlich sah sie zu ihm herüber, mit einem Lächeln, als käme sie von einer Reise heim. Er war innerlich wie befreit und spürte mit einem leisen Schrecken, wie sehr er sie liebte. Dann führte er sein Glas an die Lippen und trank ihr zu. Else, die bisher mit ihrem andern Nachbar, Demeter, geplaudert hatte, wandte sich nun an Georg; in ihrer absichtlich beiläufigen Art mit einem Blick auf Anna bemerkte sie:»Hübsch sieht sie aus. So frauenhaft. Das hat sie übrigens immer an sich gehabt. Musizieren Sie noch mit ihr?«
»Manchmal«, entgegnete Georg kühl.
»Vielleicht bitt ich sie, vom neuen Jahr an wieder mit mir zu korrepetieren. Ich weiß nicht, wieso es bis jetzt nicht dazu gekommen ist.«
Georg schwieg.
»Und wie steht es denn eigentlich«sie wies mit einem Blick auf Heinrich»mit Eurer Oper?«
»Mit unsrer Oper? Noch gar nichts steht's damit. Wer weiß, ob was draus wird.«
»Natürlich wird nichts draus werden.«
Georg lächelte.»Warum sind Sie denn heut gar so streng mit mir?«
»Ich ärgere mich halt über Sie.«
»Über mich? Warum denn…?«
»Daß Sie den Leuten immer wieder Anlaß geben, Sie als Dilettanten zu betrachten.«
Georg war ins Herz getroffen, verspürte sogar einen leisen Groll gegen Else, faßte sich aber rasch und erwiderte:»Ich bin ja vielleicht nichts anderes. Und wenn man kein Genie ist, so ist es schon besser, man ist ein ehrlicher Dilettant, als… als ein aufgeblasener Künstler.«
»Wer verlangt denn, daß Sie gleich das Größte leisten? Aber deswegen muß man sich doch nicht so gehen lassen, wie Sie's tun, innerlich und äußerlich.«
»Ich versteh Sie wirklich nicht, Else. Wie können Sie behaupten… Wissen Sie denn auch, daß ich im Herbst nach Deutschland gehe, als Kapellmeister?«
»Die Karriere wird daran scheitern, daß Sie nicht um zehn Uhr früh bei den Proben sein werden.«
In Georg wühlte es noch immer.»Wer hat mich denn übrigens einen Dilettanten genannt, wenn ich fragen darf?«
»Wer? Gott, es ist doch schon in der Zeitung gestanden.«
»Ach so«, sagte Georg beruhigt, denn er erinnerte sich jetzt, daß ein Kritiker ihn nach dem Konzert, in dem Fräulein Bellini seine Lieder gesungen, als»dilettierenden Aristokraten«bezeichnet hatte. Georgs Freunde hatten damals erklärt, diese animose Besprechung habe ihren Grund darin, daß er dem betreffenden Herrn, der als sehr eitel bekannt war, keinen Besuch gemacht hätte.
So war es nun einmal! Immer waren äußere Gründe dran schuld, wenn die Leute einen ungünstig beurteilten. Auch die Gereiztheit Elsens heute, was war sie im Grunde anderes, als Eifersucht…
Die Tafel wurde aufgehoben. Man begab sich in den Salon. Georg trat zu Anna, die am Klavier lehnte und sagte leise zu ihr:»Schön siehst du aus.«
Sie nickte befriedigt.
Dann fragte er weiter:»Hast du dich mit Heinrich gut unterhalten? Worüber habt ihr denn gesprochen? Über Therese? Nicht wahr?«
Sie antwortete nicht, und Georg merkte mit Befremden, wie ihr plötzlich die Augenlider zufielen, und sie zu wanken begann.
»Was… was haben Sie denn?«fragte er erschrocken.
Sie hörte ihn nicht und wäre niedergesunken, wenn er sie nicht rasch bei den Handgelenken gefaßt hätte. Frau Ehrenberg und Else waren im selben Augenblick bei ihr.
Haben sie uns beobachtet? dachte Georg.
Schon hatte Anna die Augen wieder offen, zwang sich zu einem Lächeln und flüsterte:»O es ist nichts, ich vertrage die Hitze manchmal so schlecht.«
»Kommen Sie«, sagte Frau Ehrenberg mütterlich,»vielleicht legen Sie sich einen Augenblick hin.«
Anna schien verwirrt, erwiderte nichts, und die Damen des Hauses geleiteten sie ins Nebenzimmer.
Georg sah um sich. Den Gästen schien nichts aufgefallen zu sein. Der Kaffee wurde herumgereicht. Georg nahm eine Tasse und rührte zerstreut mit dem Löffel herum. Am Ende, dachte er, wird sie doch nicht im Bürgerlichen enden. Aber zugleich fühlte er sich innerlich so entfernt von ihr, als ginge ihn persönlich die Sache nichts an. Frau Oberberger stand neben ihm.»Also wie denken Sie eigentlich über platonische Liebe, Sie sind ja Fachmann?«Er erwiderte zerstreut, sie redete weiter, in ihrer Art; ohne sich zu kümmern, ob er zuhörte, ob er antwortete. Plötzlich war Else wieder da. Georg erkundigte sich nach Annas Befinden, teilnehmend und höflich.
»Eine schwere Erkrankung dürfte es wohl nicht sein«, sagte Else und sah ihm fremd ins Gesicht.
Demeter Stanzides trat heran und bat sie zu singen.»Wollen Sie mich begleiten?«wandte sie sich an Georg. Er verneigte sich und setzte sich ans Klavier.
»Also was denn?«fragte Else.
»Was Sie wollen«, erwiderte Wilt,»nur nichts Modernes.«Nach dem Souper liebte er es, wenigstens in künstlerischen Dingen, den Reaktionär zu spielen.
»Justament«, sagte Else und reichte Georg ein Heft. Sie sang»Das alte Bild«von Hugo Wolf, mit ihrer kleinen, wohlgebildeten und etwas rührenden Stimme. Georg begleitete mit Geschmack, doch ziemlich zerstreut. Er war ein wenig ärgerlich über Anna, so sehr er sich dagegen wehrte. Im übrigen schien wirklich niemand den Vorfall bemerkt zu haben, als Frau Ehrenberg und Else. Ach, was lag am Ende daran… Wenn sie's auch alle wußten… Wen ging es an… Ja, wer kümmerte sich nur darum… Nun hören sie alle Else zu, dachte er weiter, und empfinden die Schönheit dieses Liedes. Sogar Frau Oberberger, die gar nicht musikalisch ist, vergißt auf einige Minuten, daß sie ein Weib ist, und hat ein stilles, geschlechtsloses Gesicht. Auch Heinrich hört gebannt zu, denkt in diesem Moment vielleicht nicht an seine Werke, nicht an das Los der Juden, nicht an die ferne Geliebte, und nicht einmal an die nahe, die kleine Blondine, der zuliebe er in der letzten Zeit geradezu elegant geworden ist. Wahrhaftig, der Frack sitzt ihm nicht übel, und die Krawatte ist keine von den fertig gekauften, wie er sie sonst trägt, sondern sorgsam geknüpft… Wer steht denn so nah hinter mir, dachte Georg weiter, daß ich den Atem über dem Haar spüre?… Sissy vielleicht…? Wenn morgen früh die Welt unterginge, Sissy wäre es, die ich mir für heute Nacht erwählte. Ja das ist sicher. Ah, da kommt Anna mit Frau Ehrenberg… Es scheint, ich bin der einzige, der es merkt, obwohl ich doch zugleich auf mein Spiel und auf Elses Gesang aufpassen muß. Ich grüße sie mit den Augen… Ja, ich grüße dich, Mutter meines Kindes… Wie sonderbar ist das Leben…
Das Lied war zu Ende. Man applaudierte, verlangte nach mehr. Georg begleitete Else zu einigen anderen Liedern, von Schumann, von Brahms, zum Schluß auf allgemeinen Wunsch zu zwei eigenen, die ihm persönlich zuwider geworden waren, seit irgendwer behauptet hatte, sie erinnerten an Mendelssohn. Während er begleitete, glaubte er jeden Zusammenhang mit Else zu verlieren und gab sich durch sein Spiel Mühe, sie wiederzugewinnen. Er spielte mit übertriebener Empfindung, er warb geradezu um sie und fühlte, daß es vergebens war. Zum erstenmal in seinem Leben war er unglücklich verliebt in sie. Der Beifall nach Georgs Liedern war stark.
»Das war Ihre beste Zeit«, sagte Else leise zu ihm, während sie die Noten weglegte.»So vor zwei, drei Jahren.«
Die andern sagten ihm Freundliches, ohne Epochen in seiner künstlerischen Entwicklung zu unterscheiden.
Nürnberger erklärte, durch die Lieder Georgs aufs angenehmste enttäuscht worden zu sein.»Ich will Ihnen nämlich nicht verhehlen«, bemerkte er,»daß ich sie mir nach den Ansichten, die ich manchmal von Ihnen vertreten höre, lieber Baron, beträchtlich unverständlicher vorgestellt hätte.«
»Wirklich charmant«, sagte Wilt.»Alles so melodiös, und einfach, ohne Affektion und Schwulst.«
Er ist es, dachte Georg grimmig, der mich einen Dilettanten geheißen hat.
Willy war herzugetreten.»Jetzt sagen S' nur noch Herr Hofrat, daß Sie sie nachpfeifen können, und wenn ich mich auf Physiognomien verstehe, so schickt Ihnen der Baron morgen früh zwei Herren.«
»O nein«, sagte Georg, sich auf sich besinnend und lächelte.»Die Lieder stammen glücklicherweise aus einer längst überwundenen Zeit. Ich fühle mich also durch keinerlei Tadel und keinerlei Lob verletzt.«
Ein Diener brachte Eis, die Gruppen lösten sich, und Anna stand mit Georg allein am Klavier. Er fragte sie rasch:»Was hat denn das zu bedeuten gehabt?«
»Ja ich weiß nicht«, erwiderte sie und sah ihn mit großen Augen an.
»Ist dir denn auch schon ganz wohl?«
»Aber vollkommen«, antwortete sie.
»Und ist dir das heute zum erstenmal passiert?«fragte Georg etwas zögernd.
Sie erwiderte:»Gestern Abend zu Haus hab ich was ähnliches gehabt. So eine Art von Ohnmacht. Es hat sogar noch etwas länger gedauert. Während wir noch beim Nachtmahl gesessen sind. Es hat's aber niemand bemerkt.«
»Warum hast du mir denn gar nichts davon gesagt?«
Sie zuckte leicht die Achseln.
»Du Anna«, sagte er lebhaft und etwas schuldbewußt,»ich möcht dich jedenfalls noch sprechen. Gib mir ein Zeichen, wenn du fortgehen willst. Ich verschwind' ein paar Minuten vor dir und wart' am Schwarzenbergplatz, bis du im Wagen kommst. Dann steig ich zu dir ein, und wir fahren noch ein bißchen spazieren. Ist es dir recht?«
Sie nickte.
Er sagte:»Auf Wiedersehen, Schatz«und begab sich ins Rauchzimmer. An einem grünen Tischchen hatten sich der alte Ehrenberg, Nürnberger und Wilt zum Tarockspiel niedergelassen. Auf zwei riesigen, grünen Lederfauteuils, nebeneinander, saßen der alte Eißler und sein Sohn und benützten die Gelegenheit, sich endlich einmal ordentlich miteinander auszuplaudern. Georg nahm eine Zigarre aus einem Kistchen, steckte sie sich an und betrachtete ohne besondere Anteilnahme die Bilder an der Wand. Auf einem grotesk gehaltenen Aquarell, das ein von rot befrackten Herren gerittenes Hürdenrennen vorstellte, sah er unten in der Ecke mit blaßroten Buchstaben auf die grüne Wiese gezeichnet Willys Namen. Unwillkürlich wandte er sich nach dem jungen Mann um und sagte:»Das hab ich noch gar nicht gekannt.«
»Es ist ziemlich neu«, bemerkte Willy beiläufig.
»Ein fesches Bild, was?«sagte der alte Eißler.
»Ah, schon etwas mehr als das«, erwiderte Georg.
»Na, hoffentlich werde ich bald mit etwas Besserem aufwarten können«, sagte Willy.
»Er geht nach Afrika auf die Löwenjagd«, erläuterte der alte Eißler,»mit dem Fürsten Wangenheim.«
»So?«sagte Georg,»Felician soll auch von der Partie sein. Aber er hat sich noch nicht entschlossen.«
»Warum denn?«fragte Willy.
»Er will im Frühjahr seine Diplomatenprüfung machen.«
»Aber das kann er doch verschieben«, sagte Willy.»Die Löwen sind ja im Aussterben, was man von den Professoren leider nicht behaupten kann.«
»Ich pränumerier mich auf ein Bild, Willy«, rief Ehrenberg vom Kartentisch herüber.
»Seien Sie später Mäcen, Vater Ehrenberg«, sagte Wilt,»ich hab einen Dreier angesagt.«
»Einen Untern«, replizierte Ehrenberg und fuhr fort:»Wenn ich mir was anschaffen darf, Willy, so malen Sie mir eine Wüstenlandschaft, in der der Fürst Wangenheim von den Löwen aufgefressen wird… aber womöglich nach der Natur.«
»Sie irren sich in der Person, Herr Ehrenberg«, sagte Willy.»Der berühmte Antisemit, den Sie meinen, ist der Cousin von meinem Wangenheim.«
»Von mir aus«, erwiderte Ehrenberg,»können sich die Löwen auch irren, es muß ja nicht jeder Antisemit berühmt sein.«
»Sie werden die Partie verlieren, wenn Sie nicht aufpassen«, mahnte Nürnberger.
»Sie hätten sich doch in Palästina ankaufen sollen«, sagte Hofrat Witt.
»Gott soll mich davor behüten«, erwiderte Ehrenberg.
»Nun, da er das bis jetzt in allen Dingen getan hat…«, sagte Nürnberger und spielte sein Blatt aus.
»Mir scheint, Nürnberger, Sie werfen mir schon wieder vor, daß ich nicht mit alten Kleidern handeln geh.«
»Dann hätten Sie wenigstens das Recht, sich über den Antisemitismus zu beklagen«, sagte Nürnberger.»Denn wer spürt in Österreich etwas davon, als die Hausierer… leider Gottes nur die, könnte man sagen.«
»Und einige Leute mit Ehrgefühl«, entgegnete Ehrenberg.»Siebenundzwanzig… einunddreißig… achtunddreißig… nu, wer hat die Partie gewonnen?«
Willy hatte sich wieder in den Salon begeben, Georg saß rauchend auf der Lehne eines Fauteuils, sah plötzlich den Blick des alten Eißler auf sich gerichtet, in einer sonderbar wohlwollenden Weise, und fühlte sich an irgend etwas erinnert, ohne zu wissen woran.
»Neulich«, sagte der alte Herr,»hab ich Ihren Bruder Felician flüchtig gesprochen, bei Schönsteins. Es ist frappant, wie er Ihrem seligen Papa ähnlich sieht. Besonders, wenn man Ihren Papa als ganz jungen Menschen gekannt hat, wie ich.«
Jetzt wußte Georg mit einemmal, woran der Blick des alten Eißler ihn erinnerte: mit dem gleichen, väterlichen Ausdruck hatten des alten Doktor Stauber Augen bei Rosners auf ihm geruht. Diese alten Juden! dachte er spöttisch, aber in einem entlegenen Winkel seiner Seele war er ein wenig gerührt. Es fiel ihm ein, daß sein Vater mit Eißler, vor dessen Kunstverständnis er großen Respekt gehabt hatte, manchmal des Morgens im Prater spazierengegangen war.
Der alte Eißler sprach weiter:»Sie Georg, geraten wohl mehr Ihrer Mutter nach, denk ich mir.«
»Es behaupten's manche. Selbst kann man das ja schwer beurteilen.«
»Ihre Mutter soll eine so schöne Stimme gehabt haben.«
»Ja, in ihrer frühen Jugend. Ich selbst habe sie ja nie wirklich singen gehört. Zuweilen hat sie's wohl versucht. Drei oder vier Jahre vor ihrem Tod, da hat ihr ein Arzt in Meran sogar den Rat gegeben, ihre Singstimme zu üben. Eine Lungengymnastik sollte es sein. Aber es hat leider nicht viel Erfolg gehabt.«
Der alte Eißler nickte und sah vor sich hin.»Daran werden Sie sich wahrscheinlich nicht mehr erinnern können, daß damals meine arme Frau mit Ihrer verstorbenen Mutter zugleich in Meran gewesen ist.«
Georg suchte in seinem Gedächtnis. Es war ihm entfallen.
»Einmal«, sagte der alte Eißler,»bin ich mit Ihrem Vater im selben Kupee hinuntergefahren. In der Nacht, wir haben beide nicht schlafen können, hat er mir sehr viel von euch zweien erzählt. Von Ihnen und Felician mein ich.«
»So…«
»Zum Beispiel, daß Sie in Rom als Bub irgendeinem italienischen Virtuosen eine eigne Komposition vorgespielt haben, und daß er Ihnen eine große Zukunft prophezeit hat.«
»Große Zukunft… ach Gott! Es war aber kein Virtuose, Herr Eißler, es war ein Geistlicher, bei dem ich dann übrigens Orgelspielen gelernt hab.«
Eißler fuhr fort:»Und abends, wenn Ihre Mutter schon zu Bett gegangen war, haben Sie ihr manchmal stundenlang im Zimmer nebenan vorphantasiert.«
Georg nickte und seufzte im stillen. Es war ihm, als hätte er zu jener Zeit viel mehr Talent gehabt als jetzt. Arbeiten, dachte er mit Inbrunst, arbeiten… Er blickte wieder auf.»Ja«, sagte er wie humoristisch,»das ist halt das Malheur, daß aus Wunderkindern so selten was wird.«
»Ich höre ja, Sie wollen Kapellmeister werden, Baron?«
»Ja«, erwiderte Georg mit Entschiedenheit.»Nächsten Herbst geh ich nach Deutschland, vielleicht zuerst als Korrepetitor an irgendein kleines Stadttheater, wie es sich eben trifft.«
»Aber gegen ein Hoftheater hätten Sie auch nichts einzuwenden?«
»Gewiß nicht. Aber wie kommen Sie darauf, Herr Eißler, wenn ich fragen darf?«
»Ich weiß ganz gut«, sagte Eißler lächelnd und ließ das Monokel fallen,»daß Sie auf meine Protektion nicht angewiesen sind, aber andererseits kann ich mir denken, daß es ihnen vielleicht nicht unsympathisch wäre, auf die Vermittlung von Agenten und andere Annehmlichkeiten dieser Art verzichten zu dürfen… ich meine nicht wegen der Perzente.«
Georg blieb kühl.»Wenn man einmal entschlossen ist eine Theaterkarriere einzuschlagen, so weiß man ja auch, was man alles mit in den Kauf zu nehmen hat.«
»Kennen Sie vielleicht den Grafen Malnitz?«fragte Eißler, unbekümmert um Georgs Lebensweisheit.
»Malnitz? Meinen Sie den Grafen Eberhard Malnitz, von dem vor ein paar Jahren eine Suite aufgeführt worden ist?«
»Ja, den mein ich.«
»Persönlich kenn ich ihn nicht und was die Suite anbelangt…«
Durch eine Handbewegung gab Eißler den Komponisten Malnitz preis.»Seit Beginn dieser Saison«, sagte er dann»ist er Intendant in Detmold. Darum hab ich Sie gefragt, ob Sie ihn kennen. Ein guter, alter Freund von mir. Er hat früher in Wien gelebt. Seit zehn oder zwölf Jahren treffen wir uns jedes Jahr, in Karlsbad oder in Ischl. Heuer wollen wir um Ostern eine kleine Mittelmeerreise machen. Erlauben Sie mir, lieber Baron, bei dieser Gelegenheit Ihren Namen zu nennen und von Ihren kapellmeisterlichen Absichten ein Wort zu sagen?«
Georg zögerte zu antworten und lächelte höflich.
»O, fassen Sie meinen Vorschlag nicht als Zudringlichkeit auf, lieber Baron. Wenn Sie nicht wollen, halt ich natürlich das Maul.«
»Sie mißverstehen mein Schweigen«, entgegnete Georg liebenswürdig, doch nicht ohne Hochmut.»Aber ich weiß wirklich nicht «
»So ein kleines Hoftheater«, fuhr Eißler fort,»stell ich mir gerade für den Anfang als den richtigen Boden für Sie vor. Daß Sie von Adel sind, wird Ihnen gerade auch nicht schaden, sogar bei meinem Freunde Malnitz nicht, obwohl der gerne den Demokraten spielt, zuweilen sogar den Anarchisten… mit Nachsicht der Bomben selbstverständlich. Aber er ist ein charmanter Mensch und wirklich enorm musikalisch… wenn er nicht grad komponiert.«
»Nun«, erwiderte Georg etwas befangen,»wenn Sie die Güte haben wollen, mit ihm zu reden… man biete dem Glücke die Hand. Jedenfalls dank ich Ihnen sehr.«
»Keine Ursache. Ich garantiere ja nicht für den Erfolg. Es ist eben eine Chance unter andern.«
Frau Oberberger und Sissy traten ein, von Demeter Stanzides begleitet.
»Was haben wir da für ein interessantes Gespräch unterbrochen?«fragte Frau Oberberger.»Der erfahrene Platoniker und der unerfahrene Wüstling! Da hätt man dabei sein sollen.«
»Beruhigen Sie sich, Katharina«, sagte Eißler, und seine Stimme hatte wieder ihren tremolierend tiefen Klang.»Man spricht zuweilen auch von anderen Dingen, als von der Zukunft des Menschengeschlechts.«
Sissy nahm eine Zigarette zwischen die Lippen, ließ sich von Georg Feuer geben und setzte sich in die Ecke des grünen Lederdiwans.»Sie kümmern sich ja heute gar nicht für mich«, begann sie mit dem englischen Akzent, den Georg so sehr an ihr liebte.»Als wenn man überhaupt gar nicht auf der Welt wäre. O, es ist so. Ich bin doch eine treuere Natur als Sie. Bin ich nicht?«
»Sie treu, Sissy…?«Er schob einen Fauteuil ganz nahe zu ihr hin. Sie sprachen von dem vergangenen Sommer und von dem kommenden.
»Voriges Jahr«, sagte Sissy,»haben Sie mir Ihr Wort versprochen, daß Sie hinkommen werden, wo ich bin. Sie haben es nicht getan. Heuer aber müssen Sie Ihr Wort halten.«
»Gehn Sie wieder nach der Isle of Wight?«
»Nein, wir werden diesmal ins Gebirge gehen, nach Tirol oder ins Salzkammergut. Ich will Ihnen schon sagen. Werden Sie kommen?«
»Sie dürften jedenfalls wieder ein großes Gefolge haben?«
»Ich werde mich für keinen kümmern als für Sie, Georg.«
»Auch wenn Willy Eißler sich zufällig in Ihrer Nähe aufhalten sollte?«
»O«, sagte sie mit einem verworfenen Lächeln und drückte das Feuer ihrer Zigarette gewaltsam in der gläsernen Aschenschale aus.
Sie redeten weiter. Es war eines jener Gespräche, wie sie es in den letzten Jahren so oft geführt hatten. Scherzend und leicht fing es an und glühte am Ende von zärtlichen Lügen, die einen Augenblick lang Wahrheit waren. Georg war wieder einmal berückt von Sissy.
»Am liebsten möcht ich mit Ihnen eine Reise machen«, flüsterte er ganz nah bei ihr.
Sie nickte nur, ihr linker Arm lag auf der breiten Lehne des Diwans.»Wenn man könnte, wie man wollte«, sagte sie und hatte einen Blick, der von hundert Männern träumte.
Er beugte sich über ihren zitternden Arm, redete weiter und berauschte sich an seinen eigenen Worten.»Irgendwo, wo niemand uns kennt, wo man sich um keinen Menschen kümmern müßte, möchte ich mit Ihnen zusammen sein, Sissy. Viele Tage und Nächte.«
Sissy bebte. Das Wort Nächte jagte ihr Schauer durchs Blut.
Anna erschien in der Tür, gab Georg mit dem Blick ein Zeichen und verschwand gleich wieder. Er lehnte sich innerlich auf, und doch war es ihm ganz recht, daß er sich gerade jetzt von Sissy verabschieden durfte. In der Tür zum Salon begegnete er Heinrich, der ihn ansprach.»Wenn Sie gehen, sagen Sie mir's bitte, ich möchte gern noch mit Ihnen reden.«
»Mit Vergnügen. Aber ich muß… ich habe nämlich Fräulein Rosner versprochen, sie nach Hause zu begleiten. Dann komm ich gleich ins Kaffeehaus. Auf Wiedersehen also.«
Ein paar Minuten später stand er auf der Schwarzenbergbrücke. Der Himmel war voller Sterne, die Straßen lagen weiß und still. Georg schlug den Kragen auf, obwohl es gar nicht mehr kalt war und ging hin und her. Ob aus der Detmolder Geschichte was werden wird? dachte er. Nun, ist es nicht Detmold, so ist es irgendeine andre Stadt. Jedenfalls wird es nun ernst. Und vieles, vieles wird bis dahin hinter mir liegen. Er versuchte in Ruhe zu überlegen. Wie wird das alles nur werden? Nun haben wir Ende Dezember. Im März müßten wir fort spätestens… Man wird uns für ein Ehepaar halten. Ich werde Arm in Arm mit ihr spazieren gehen, in Rom, am Posilipp, in Venedig… Es gibt Frauen, die sehr häßlich werden in diesem Zustand… Sie nicht, nein, sie nicht… Immer hatte sie so was Mütterliches in ihrem Aussehen… Im Sommer wird sie in irgendeiner stillen Gegend wohnen, wo niemand sie kennt… Im Thüringer Wald vielleicht, oder am Rhein… Wie sonderbar sie das heute sagte: das Haus, in dem das Kind zur Welt kommen wird, das existiert schon. Ja!… Irgendwo in der Ferne, oder vielleicht auch ganz nah steht dieses Haus und Leute wohnen drin, die wir nie gesehen haben. Wie seltsam… Wann wird es zur Welt kommen? Im Spätsommer… Anfangs September ungefähr. In dieser Zeit werde ich am Ende schon fort sein müssen. Wie werd ich das nur machen?… Und heut ein Jahr ist das kleine Wesen schon vier Monate alt. Es wird aufwachsen… groß werden. Eines schönen Tags ist ein junger Mann da, mein Sohn. Oder ein junges Mädchen. Ein schönes Mädchen von siebzehn Jahren, meine Tochter… Dann bin ich vierundvierzig… Mit sechsundvierzig kann ich Großvater sein… Vielleicht auch Direktor einer Opernbühne und ein berühmter Komponist, trotz Elses Prophezeiungen. Aber dazu muß man arbeiten, das ist schon wahr. Mehr als ich es bisher getan habe. Else hat recht, ich laß mich zu sehr gehen. Das muß anders werden… Es wird auch. Ich fühle ja, wie es in mir sich regt. Ja auch in mir regt es sich.
Von der Heugasse her kam ein Wagen, jemand beugte sich aus dem Fenster. Unter dem weißen Shawl erkannte Georg Annas Antlitz. Er war sehr froh, stieg zu ihr ein und küßte ihr die Hand. Sie plauderten vergnügt, spotteten ein wenig über die Gesellschaft, aus der sie eben kamen, und fanden es im Grunde lächerlich, einen Abend in so leerer Weise hinzubringen. Er hielt ihre Hände in den seinen und war ergriffen von ihrer Gegenwart. Vor ihrem Hause stieg er aus und klingelte, dann trat er zu dem offenen Wagenschlag, und sie verabredeten ein Wiedersehen für den nächsten Tag.»Ich glaube, wir haben manches zu besprechen«, sagte Anna. Er nickte nur. Das Haustor wurde geöffnet, sie stieg aus dem Wagen, ließ einen innigen Blick auf Georg ruhen und verschwand im Flur.
Geliebte, dachte Georg mit einem Gefühl von Glück und Stolz. Das Leben lag vor ihm, als etwas ernst-geheimnisvolles, voll Aufgaben und Wundern.
Als er ins Kaffeehaus trat, saß Heinrich in einer Fensternische, neben ihm ein sehr junger, bartloser, grünlich blasser Mensch, den Georg schon einige Male flüchtig gesprochen hatte, in Smoking mit Samtkragen, aber mit einer Hemdbrust von zweifelhafter Reinheit. Als Georg herzutrat, sah der junge Mensch eben mit glühenden Augen von einem Heftchen auf, das er in unruhigen, nicht sehr gepflegten Händen hielt.
»O ich störe«, sagte Georg.
»Durchaus nicht«, erwiderte der junge Mann mit irrsinnigem Lachen.»Je mehr Publikum, je lieber.«
»Herr Winternitz«, erklärte Heinrich, während er Georg die Hand reichte,»liest mir eben einen Gedichtenzyklus vor. Wir werden's vielleicht für diesmal unterbrechen.«
Georg, von dem enttäuschten Blick des jungen Mannes ein wenig gerührt, behauptete, daß er mit Vergnügen zuhören möchte, wenn es gestattet sei.
»Es dauert auch nicht mehr lange«, erklärte Winternitz dankbar.»Nur schade, daß Sie den Anfang versäumt haben. Ich könnte…«
»Ja, ist es denn zusammenhängend?«fragte Heinrich erstaunt.
»Wie, das haben Sie nicht bemerkt?«rief Winternitz und lachte wieder irrsinnig.
»Ach so«, sagte Heinrich,»das ist immer dieselbe Frauensperson, von der Ihre Gedichte handeln? Ich glaubte, es sei immer eine andere.«
»Natürlich ist es immer dieselbe. Das ist ja das Charakteristische, daß sie immer wie eine neue Person wirkt.«
Herr Winternitz las leise, aber eindringlich, wie innerlich verzehrt. Aus seinem Zyklus ergab sich, daß er geliebt worden war, wie nie ein Mensch vor ihm, aber auch betrogen wie noch keiner, was gewissermaßen metaphysischen Ursachen und keineswegs Mängeln seiner Persönlichkeit zuzuschreiben war. Im letzten Gedicht aber erwies er sich als völlig befreit von seiner Leidenschaft und erklärte sich bereit von nun an alle Freuden zu genießen, die die Welt ihm bieten mochte. Dieses Gedicht hatte vier Strophen, der letzte Vers jeder Strophe begann mit einem»Hei«, und es schloß mit dem Ausruf:»Hei, so jag ich durch die Welt.«
Georg mußte sich gestehen, daß ihm die Vorlesung einen gewissen Eindruck gemacht hatte, und als Winternitz das Heft vor sich hinlegend, mit übergroßen Augen um sich schaute, nickte Georg beifällig und sagte:»Sehr schön.«
Winternitz sah erwartungsvoll auf Heinrich, der ein paar Sekunden schwieg und endlich bemerkte:»Es ist im ganzen sehr interessant… aber warum sagen Sie ›hei‹, wenn ich fragen darf? Es glaubt's Ihnen ja doch niemand.«
»Wieso?«rief Winternitz.
»Fragen Sie sich doch nur selber aufs Gewissen, ob dieses ›hei‹ ehrlich empfunden ist. Alles übrige, was Sie mir da vorgelesen haben, glaub ich Ihnen. Das heißt, ich glaub es Ihnen in höherm Sinn, obzwar kein Wort davon wahr ist. Ich glaube Ihnen, daß Sie ein fünfzehnjähriges Mädchen verführen, daß Sie sich benehmen wie ein ausgepichter Don Juan, daß Sie das arme Geschöpf in der furchtbarsten Weise verderben, daß es Sie mit einem,… was war er nur…«
»Ein Clown natürlich«, rief Winternitz mit wahnwitzigem Lachen.
»Daß es Sie mit einem Clown betrügt, daß Sie durch dieses Geschöpf in immer dunklere Abenteuer geraten, daß Sie die Geliebte, ja sich selber umbringen wollen, daß Ihnen die Geschichte schließlich egal wird, daß Sie durch die Welt reisen, oder sogar jagen, meinetwegen bis Australien, ja, das alles glaub ich Ihnen, aber daß Sie der Mensch sind ›hei‹ zu rufen, das, lieber Winternitz, das ist einfach ein Schwindel.«
Winternitz verteidigte sich. Er beschwor, daß dieses»hei«aus seinem innersten Wesen hervorgegangen wäre, zum mindesten aus einem gewissen Element seines innersten Wesens. Auf weitere Einwände Heinrichs zog er sich allmählich zurück und erklärte endlich, daß er sich irgendeinmal bis zu jener innern Freiheit durchzuringen hoffe, die ihm gestatten würde»hei«zu rufen.
»Niemals wird diese Zeit kommen«, entgegnete Heinrich bestimmt.»Sie werden vielleicht einmal bis zum epischen oder dramatischen ›hei‹ kommen, das lyrisch subjektive ›hei‹ bleibt Ihnen, bleibt unsereinem, mein lieber Winternitz, doch bis in alle Ewigkeit versagt.«
Winternitz versprach das letzte Gedicht zu ändern, sich überhaupt weiter zu entwickeln und an seiner innern Reinigung zu arbeiten. Er stand auf, wobei seine gestärkte Hemdbrust knackte und ein Knopf aufsprang, reichte Heinrich und Georg eine etwas feuchte Hand und begab sich in den Hintergrund an den Tisch der Literaten. Georg äußerte sich vorsichtig anerkennend zu Heinrich über die Gedichte, die er gehört hatte.
»Er ist mir noch der liebste von der ganzen Gesellschaft, persönlich wenigstens«, sagte Heinrich.»Er weiß doch wenigstens innerlich eine gewisse Distanz zu wahren. Ja. Sie brauchen mich nicht gleich wieder anzusehen, als wenn Sie mich auf einem Anfall von Größenwahn ertappten. Aber ich kann Sie versichern, Georg, von der Sorte Leute«, er streifte den Tisch drüben mit einem flüchtigen Blick,»denen immer ein ›ä soi‹ auf den Lippen schwebt, hab ich nachgerade genug.«
»Was schwebt ihnen auf den Lippen?«
Heinrich lachte.»Sie kennen doch die Geschichte von dem polnischen Juden, der mit einem Unbekannten im Eisenbahnkupee sitzt, sehr manierlich bis er durch irgendeine Bemerkung des andern darauf kommt, daß der auch ein Jude ist, worauf er sofort mit einem erlösten ›ä soi‹ die Beine auf den Sitz gegenüber ausstreckt.«
»Sehr gut«, sagte Georg.
»Mehr als das«, ergänzte Heinrich streng.»Tief. Tief wie so viele jüdische Anekdoten. Sie schließt einen Blick auf in die Tragikomödie des heutigen Judentums. Sie drückt die ewige Wahrheit aus, daß ein Jude vor dem andern nie wirklichen Respekt hat. Nie. So wenig als Gefangene in Feindesland voreinander wirklichen Respekt haben, besonders hoffnungslose. Neid, Haß, ja manchmal Bewunderung, am Ende sogar Liebe kann zwischen ihnen existieren, Respekt niemals. Denn alle Gefühlsbeziehungen spielen sich in einer Atmosphäre von Intimität ab, sozusagen, in der der Respekt ersticken muß.«
»Wissen Sie, was ich finde?«bemerkte Georg,»daß Sie ein ärgerer Antisemit sind, als die meisten Christen, die ich kenne.«
»Glauben Sie?«Er lachte:»Ein richtiger wohl nicht. Ein richtiger ist ja nur der, der sich im Grunde über die guten Eigenschaften der Juden ärgert und alles dazu tut, um ihre schlechten weiter zu entwickeln. Aber in gewissem Sinne haben Sie schon recht. Ich gestatte mir ja schließlich auch Antiarier zu sein. Jede Rasse als solche ist natürlich widerwärtig. Nur der einzelne vermag es zuweilen, durch persönliche Vorzüge mit den Widerlichkeiten seiner Rasse zu versöhnen. Aber daß ich den Fehlern der Juden gegenüber besonders empfindlich bin, das will ich gar nicht leugnen. Wahrscheinlich liegt es nur daran, daß ich, wir alle, auch wir Juden mein ich, zu dieser Empfindlichkeit systematisch herangezogen worden sind. Von Jugend auf werden wir darauf hingehetzt gerade jüdische Eigenschaften als besonders lächerlich oder widerwärtig zu empfinden, was hinsichtlich der ebenso lächerlichen und widerwärtigen Eigenheiten der andern eben nicht der Fall ist. Ich will es gar nicht verhehlen, wenn sich ein Jude in meiner Gegenwart ungezogen oder lächerlich benimmt, befällt mich manchmal ein so peinliches Gefühl, daß ich vergehen möchte, in die Erde sinken. Es ist wie eine Art von Schamgefühl, das vielleicht irgendwie mit dem Schamgefühl eines Bruders verwandt ist, vor dem sich seine Schwester entkleidet. Vielleicht ist das Ganze auch nur Egoismus. Es erbittert einen eben, daß man immer wieder für die Fehler von andern mit verantwortlich gemacht wird, daß man für jedes Verbrechen, für jede Geschmacklosigkeit, für jede Unvorsichtigkeit, die sich irgendein Jude auf der Welt zuschulden kommen läßt, mitzubüßen hat. Da wird man dann natürlich leicht ungerecht. Aber das sind Nervositäten, Empfindlichkeiten, weiter nichts. Da besinnt man sich auch wieder. Das kann man doch nicht Antisemitismus nennen. Aber es gibt schon Juden, die ich wirklich hasse, als Juden hasse. Das sind die, die vor andern und manchmal auch vor sich selber tun, als wenn sie nicht dazu gehörten. Die sich in wohlfeiler und kriecherischer Weise bei ihren Feinden und Verächtern anzubieten suchen und sich auf diese Art von dem ewigen Fluch loszukaufen glauben, der auf ihnen lastet, oder von dem, was sie eben als Fluch empfinden. Das sind übrigens beinahe immer solche Juden, die im Gefühl ihrer eigenen höchst persönlichen Schäbigkeit herumgehen und dafür unbewußt oder bewußt ihre Rasse verantwortlich machen möchten. Natürlich hilfts ihnen nicht das geringste. Was hat den Juden überhaupt jemals geholfen. Den guten und den schlimmen. Ich meine natürlich«, setzte er hastig hinzu,»denen, die so irgend etwas wie eine äußerliche oder innerliche Hilfe brauchen.«Und in einem absichtlich leichten Tone brach er ab.»Ja mein lieber Georg, die Angelegenheit ist etwas kompliziert, und es ist ganz natürlich, daß allen denen, die nicht direkt mit der Frage zu schaffen haben, das richtige Verständnis für sie abgeht.«
»Na das darf man doch nicht so…«
Heinrich unterbrach ihn gleich.»Man darf schon, lieber Georg. Es ist nun einmal so. Ihr versteht uns nämlich nicht. Manche haben vielleicht eine Ahnung. Aber verstehen!? Nein. Wir verstehen euch jedenfalls viel besser, als ihr uns. Wenn Sie auch den Kopf schütteln! Es ist ja nicht unser Verdienst. Wir haben es nämlich notwendiger gehabt, euch verstehen zu lernen, als ihr uns. Diese Gabe des Verstehens hat sich ja im Lauf der Zeit bei uns entwickeln müssen… nach den Gesetzen des Daseinskampfes, wenn Sie wollen. Denn sehen Sie, um sich unter Fremden, oder wie ich schon früher sagte, in Feindesland zurechtzufinden, um gegen alle Gefahren, Tücken gerüstet zu sein, die da lauern, dazu gehört natürlich vor allem, daß man seine Feinde so gut kennen lernt als möglich ihre Tugenden und ihre Schwächen.«
»Also unter Feinden leben Sie? Unter Fremden? Dem Leo Golowski gegenüber wollten Sie das nicht zugestehen. Ich bin übrigens auch nicht seiner Ansicht, durchaus nicht. Aber was ist das für ein sonderbarer Widerspruch, daß Sie heute…«
Ganz gequält unterbrach ihn Heinrich.»Ich sagte Ihnen ja schon, die Sache ist viel zu kompliziert, um überhaupt erledigt zu werden. Sogar innerlich ist es nahezu unmöglich. Und nun gar in Worten! Ja manchmal möchte man glauben, daß es gar nicht so arg steht. Manchmal ist man ja wirklich daheim, trotz allem, fühlt sich hier so zu Hause, ja geradezu heimatlicher, als irgendeiner von den sogenannten Eingeborenen sich fühlen kann. Es ist offenbar so, daß durch das Bewußtsein des Verstehens das Gefühl der Fremdheit in gewissem Sinn wieder aufgehoben wird. Ja, es wird gleichsam durchtränkt von Stolz, Herablassung, Zärtlichkeit, löst sich auf, allerdings auch zuweilen in Sentimentalität, was ja wieder eine schlimme Sache ist.«Er saß da, mit tiefen Falten in der Stirn und sah vor sich hin.
Versteht er mich wirklich besser, dachte Georg, als ich ihn? Oder ist es wieder nur Größenwahn?
Heinrich fuhr plötzlich auf, wie aus einem Traum. Er sah auf die Uhr.»Halb drei! Und morgen früh um acht geht mein Zug.«
»Wie, Sie reisen fort?«
»Ja. Darum wollt ich Sie auch noch so gern sprechen. Ich werd' Ihnen leider auf längere Zeit adieu sagen müssen. Ich fahre nach Prag. Ich bringe meinen Vater aus der Anstalt nach Hause, in seine Heimat.«
»Es geht ihm also besser?«
»Nein. Er ist nur in dem Stadium, wo er für die Umgebung ungefährlich geworden ist… Ja, das ist auch recht rasch gekommen.«
»Und wann ungefähr denken Sie wieder zurück zu sein?«
Heinrich zuckte die Achseln.»Das läßt sich heute noch nicht sagen. Aber wie immer sich die Sache weiterentwickelt, keineswegs kann ich Mutter und Schwester jetzt allein lassen.«
Georg verspürte ein wirkliches Bedauern, Heinrichs Gesellschaft in der nächsten Zeit entbehren zu sollen.»Es wäre möglich, daß Sie mich in Wien nicht mehr antreffen, wenn Sie zurückkommen. Ich werde in diesem Frühjahr nämlich wahrscheinlich auch fortfahren.«Und er fühlte beinahe Lust, sich Heinrich anzuvertrauen.
»Sie reisen wohl in den Süden?«fragte Heinrich.
»Ja ich denke. Einmal noch meine Freiheit genießen. Ein paar Monate lang. Im nächsten Herbst fängt nämlich der Ernst des Lebens an. Ich sehe mich um eine Stellung in Deutschland um, an irgendeinem Theater.«
»Also wirklich?«
Der Kellner war an den Tisch gekommen, sie zahlten und gingen. An der Tür trafen sie mit Rapp und Gleißner zusammen. Ein paar Worte der Begrüßung wurden gewechselt.
»Was treiben Sie immer, Herr Rapp?«fragte Georg verbindlich.
Rapp wischte seinen Zwicker ab.»Immer mein altes, trauriges Handwerk. Ich bin beschäftigt, die Nichtigkeit von Nichtigkeiten nachzuweisen.«
»Du könntest dir ja Abwechslung verschaffen, Rapp«, sagte Heinrich.»Versuch einmal dein Glück und preise die Herrlichkeit der Herrlichkeiten.«
»Wozu?«sagte Rapp und setzte den Zwicker auf.»Die beweist sich selbst im Laufe der Zeit. Aber die Stümperei erlebt meist nur ihr Glück und ihren Ruhm, und wenn ihr die Welt endlich auf den Schwindel kommt, hat sie sich längst in ihr Grab oder… in ihre vermeintliche Unsterblichkeit geflüchtet.«
Sie standen auf der Straße und schlugen alle die Rockkragen auf, da es wieder heftig zu schneien begonnen hatte. Gleißner, der vor ein paar Wochen seinen ersten, großen Theatererfolg erlebt hatte, erzählte geschwind, daß auch die heutige siebente Vorstellung seines Werkes ausverkauft gewesen war. Rapp knüpfte daran hämische Bemerkungen über die Dummheit des Publikums. Gleißner erwiderte mit Späßen über die Machtlosigkeit der Kritik gegenüber dem wahren Genie; und so spazierten sie davon, mit aufgestellten Kragen, durch den Schnee, ganz eingehüllt in den dampfenden Haß ihrer alten Freundschaft.
»Dieser Rapp hat kein Glück«, sagte Heinrich zu Georg.»Bei allen seinen Freunden, denen er vor zehn Jahren Erfolg prophezeit hat, trifft es nun wirklich ein. Er wird es auch Gleißner nicht verzeihen, daß der ihn nicht enttäuscht hat.«
»Halten Sie ihn für so neidisch?«
»Das kann man nicht einmal sagen. So einfach liegen ja die Dinge selten, daß sie mit einem Wort abzutun wären. Aber bedenken Sie doch nur, was das für ein Los ist, in dem Glauben herumzugehen, daß man das tiefste Wissen von der Welt so gut in sich trägt wie Shakespeare und dabei zu fühlen, daß man nicht einmal so viel davon auszusprechen imstande ist, als beispielsweise Herr Gleißner, obwohl man vielleicht gerade so viel wert ist oder mehr.«
Sie gingen eine Zeitlang schweigend nebeneinander her. Die Bäume auf dem Ring standen starr mit weißen Ästen. Vom Rathausturm schlug es drei. Sie überschritten die menschenleere Straße und nahmen den Weg durch den stillen Park. Rings schimmerte es fast hell vom unablässig sinkenden Schnee.
»Das neueste hab ich Ihnen übrigens noch nicht erzählt«, begann Heinrich endlich, vor sich hinschauend und in trockenem Ton.
»Was denn?«
»Daß ich nämlich anonyme Briefe bekomme, seit einiger Zeit.«
»Anonyme Briefe? Welchen Inhalts?«
»Nun, Sie können sich's wohl denken.«
»Ach so.«Es war Georg klar, daß es sich nur um die Schauspielerin handeln konnte. Aus der fremden Stadt, wo Heinrich die Geliebte in einem neuen Stück die Rolle eines verdorbenen Geschöpfes mit einer ihm unerträglichen Naturwahrheit hatte spielen gesehen, war er in bittereren Qualen zurückgekehrt, als je. Georg wußte, daß seither Briefe voll Zärtlichkeit und Hohn, voll Groll und Verzeihung, peinvoll zerrüttete und mühsam beruhigte, zwischen ihnen hin und her gingen.
»Seit acht Tagen etwa«, erzählte Heinrich,»kommen diese angenehmen Sendungen regelmäßig jeden Morgen. Nicht sehr angenehm, ich versichere Sie!«
»Ach Gott, was liegt Ihnen denn dran. Sie wissen ja selbst, in anonymen Briefen steht nie die Wahrheit.«
»Im Gegenteil, lieber Georg, immer.«
»Aber!«
»Die höhere Wahrheit gewissermaßen enthalten solche Briefe. Die große Wahrheit der Möglichkeiten. Die Menschen haben im allgemeinen nicht genug Phantasie, um aus dem Nichts zu schaffen.«
»Das wäre eine schöne Auffassung! Wo käme man denn da hin? Da machen Sie den Verleumdern aller Art die Sache doch etwas zu bequem.«
»Warum sagen Sie Verleumder? Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, daß in den anonymen Briefen, die ich erhalte, Verleumdungen enthalten sind. Vielleicht Übertreibungen, Ausschmückungen, Ungenauigkeiten…«
»Lügen…«
»Nein, es werden wohl nicht Lügen sein. Einige wohl. Aber wie soll man Wahrheit und Lüge auseinanderhalten in solch einem Fall?«
»Dafür gibt es doch ein höchst einfaches Mittel. Fahren Sie hin.«
»Ich soll hinfahren?«
»Natürlich sollten Sie das. An Ort und Stelle müßten Sie doch der Wahrheit sofort auf den Grund kommen.«
»Es wäre immerhin möglich.«
Sie wanderten unter Bogengängen, auf feuchtem Stein. Ihre Stimmen und Schritte hallten. Georg begann von neuem.»Statt solche jedenfalls enervante Unannehmlichkeiten weiter durchzumachen, würd ich mich doch persönlich zu überzeugen suchen, wie die Dinge stehen.«
»Ja, das richtigste wäre es wohl.«
»Nun, warum tun Sie es also nicht?«
Heinrich blieb stehen, und mit zusammengepreßten Zähnen stieß er hervor:»Sagen Sie, lieber Georg, sollten Sie wirklich noch nicht bemerkt haben, daß ich feig bin?«
»Ach das nennt man doch nicht feig.«
»Nennen Sie's, wie Sie wollen. Worte stimmen ja nie ganz je präziser sie sich gebärden, umso weniger. Ich weiß, wie ich bin. Nicht um die Welt fahr ich hin. Lächerlich auch noch? Nein, nein, nein…«
»Also was werden Sie tun?«
Heinrich zuckte die Achseln, als ginge ihn die Sache doch eigentlich nichts an.
Etwas geärgert, fragte Georg wieder:»Wenn Sie mir eine Bemerkung erlauben, was sagt denn die… Hauptbeteiligte?«
»Die Hauptbeteiligte, wie Sie sie mit infernalischem, aber unbewußtem Witz nennen, weiß vorläufig nichts davon, daß ich anonyme Briefe bekomme.«
»Haben Sie die Korrespondenz mit ihr abgebrochen?«
»Was fällt Ihnen ein? Wir schreiben uns täglich, nach wie vor; sie mir die zärtlichsten und verlogensten Briefe, ich ihr die gemeinsten, die Sie sich vorstellen können, unaufrichtig, hinterhältig, marternd bis aufs Blut.«
»Hören Sie, Heinrich, Sie sind wahrhaftig kein sehr edler Charakter.«
Heinrich lachte laut auf.»Nein, edel bin ich nicht, dazu bin ich offenbar nicht auf die Welt gekommen.«
»Und wenn man bedenkt, daß es am Ende lauter Verleumdungen sind!«Georg, für seinen Teil, zweifelte natürlich nicht, daß die anonymen Briefe die Wahrheit enthielten. Trotzdem wünschte er ehrlich, daß Heinrich an Ort und Stelle reiste, sich selbst überzeugte, irgend etwas unternähme, jemanden ohrfeigte oder niederschösse. Er stellte sich Felician in einem ähnlichen Falle vor, oder Stanzides, oder Willy Eißler. Alle hätten sich besser benommen, oder wenigstens anders, und gewiß in einer ihm sympathischern Art. Plötzlich fuhr ihm die Frage durch den Kopf, was er wohl täte, wenn Anna ihn hinterginge. Anna, ihn?!… War das überhaupt möglich? Er dachte an den Blick von heut Abend, den neugierig dunkeln, den sie hinüber zu Demeter Stanzides gesandt hatte. Nein, der bedeutete nichts, das war gewiß. Und die alten Geschichten mit Leo und dem Gesangsmeister? Die waren harmlos, kindisch beinah. Aber etwas anderes, vielleicht bedeutungsvolleres, fiel ihm ein. Einer seltsamen Frage erinnerte er sich, die sie an ihn gestellt, als sie sich neulich in seiner Gesellschaft verspätet und mit einer Ausrede hatte nach Hause eilen müssen. Ob er nicht fürchte, hatte sie gefragt, es einmal bereuen zu müssen, daß er sie zur Lügnerin machte? Halb wie ein Vorwurf, halb wie eine Warnung hatte es geklungen. Und wenn sie selbst ihrer so wenig sicher schien, durfte er ihr ohne weiteres vertrauen? Liebte er sie nicht auch und betrog er sie nicht trotzdem, oder war in jedem Augenblick bereit dazu, was am Ende dasselbe bedeutete? Vor einer Stunde im Wagen, als er sie in den Armen hielt und küßte, hatte sie gewiß nicht geahnt, daß er einen andern Gedanken hatte als sie. Und doch, in irgendeinem Augenblick, seine Lippen auf den ihren, hatte er sich nach Sissy gesehnt. Warum sollte es nicht geschehen können, daß Anna ihn betrog?… Am Ende schon geschehen sein… ohne daß er es ahnte?… Aber all diese Einfälle waren gleichsam ohne Schwere. Wie phantastische, beinahe amüsante Möglichkeiten schwebten sie durch den Sinn. Er stand mit Heinrich vor dem geschlossenen Haustor in der Florianigasse und reichte ihm die Hand.»Also leben Sie wohl«, sagte er,»wenn wir uns wiedersehen, sind Sie hoffentlich von Ihren Zweifeln geheilt.«
»Wäre das ein besonderer Gewinn?«fragte Heinrich.»Kann man sich denn in Liebessachen mit Gewißheiten beruhigen? Höchstens mit schlimmen, denn die sind für die Dauer. Aber eine gute Gewißheit ist bestenfalls ein Rausch… Nun grüß Sie Gott. Im Mai sehen wir uns hoffentlich wieder. Da komm ich, was immer geschehen sein mag, auf einige Zeit her, und da können wir auch über unsere famose Oper weiterreden.«
»Ja, wenn ich im Mai schon wieder in Wien bin. Es könnte sein, daß ich erst im Herbst zurückkomme.«
»Und dann gleich wieder fort in Ihren neuen Beruf?«
»Es wäre nicht unmöglich, daß es sich so fügt.«Und er sah Heinrich ins Auge mit einer Art von kindlich-trotzigem Lächeln: Ich sag dir's ja doch nicht!
Heinrich schien befremdet.»Hören Sie, Georg, da stehen wir ja vielleicht zum letztenmal zusammen vor diesem Tor. O, ich bin fern davon, mich in Ihr Vertrauen einzudrängen. Es wird wohl bei diesem etwas einseitigen Verhältnis zwischen uns bleiben müssen. Na tut nichts.«
Georg sah vor sich hin.
»Der Himmel beschütze Sie«, sagte Heinrich, als das Tor sich auftat.»Und lassen Sie gelegentlich von sich hören.«
»Gewiß«, erwiderte Georg und sah plötzlich Heinrichs Augen mit einem unerwarteten Ausdruck von Innigkeit auf sich ruhen.»Gewiß… und Sie müssen mir auch schreiben. Jedenfalls geben Sie mir Nachricht, wie es bei Ihnen zu Hause steht und was Sie arbeiten. Überhaupt«, setzte er herzlich hinzu,»wir müssen in ununterbrochener Verbindung bleiben.«
Der Hausmeister stand da, mit gesträubtem Haar, verschlafenem und bösem Blick, in einem grünlich-braunen Schlafrock, mit Schlapfen an den nackten Füßen.
Heinrich reichte Georg ein letztes Mal die Hand.»Auf Wiedersehen, lieber Freund«, sagte er. Und dann, leiser, auf den Torwächter deutend:»Ich kann ihn nicht länger warten lassen. Wie er mich in dieser Sekunde bei sich nennt, können Sie von seiner edeln, unverfälscht einheimischen Physiognomie ohne besondere Schwierigkeiten ablesen. Adieu.«
Georg mußte lachen. Heinrich verschwand, das Tor schmetterte zu.
Georg empfand keine Spur von Schläfrigkeit und entschloß sich, zu Fuß heimwärts zu wandern. Er war in erregter, gehobener Stimmung. Den Tagen, die nun kommen sollten, sah er mit eigentümlicher Spannung entgegen. Er dachte an das morgige Wiedersehen mit Anna, an Besprechungen, die in Aussicht waren, an die Abreise, an das Haus, das schon irgendwo in der Welt stand, und das ihm in seiner Vorstellung jetzt ungefähr erschien, wie ein Haus aus einer Spielereischachtel, licht, grün, mit einem knallroten Dach und einem schwarzen Rauchfang. Und wie ein Bild, von einer Laterna magica an einen weißen Vorhang geworfen, erschien ihm seine eigene Gestalt: er sah sich auf einem Balkon sitzen, in beglückter Einsamkeit, vor einem mit Notenblättern überdeckten Tisch; Äste wiegten sich vor den Gitterstäben; ein heller Himmel ruhte über ihm, und tief unten zu seinen Füßen, in traumhaft übertriebenem Blau, lag das Meer.
